Kirche und Diakonie – nur gemeinsam durch die Krisen!

„Die Diakonie“ wird gar keine 175 Jahre alt. Es gibt sie – der Sache nach – schon im Ersten Testament und – dem Begriff nach – im Zweiten Testament der Bibel. Und durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch.

Impuls Kreissynode 02.12.2023

175 Jahre alt wird die institutionelle Diakonie. Das ist keine Haarspalterei, sondern Teil des Problems: Die institutionelle Diakonie – die großen Anstalten wie Bethel und Kaiserswerth, aber auch kleinere Einrichtungen und Dienste – verstanden sich dezidiert als kirchliche Bewegung (daher „Innere Mission“, „rettende Liebe“).

Weil die frühen Diakoniker an der Reformfreude der verfassten Kirche zweifelten, entstanden ihre Einrichtungen strukturell neben der verfassten Kirche: in der damals modernen Rechtsform des eingetragenen Vereins (heute noch bei Diakonie in RE, bei vielen anderen die gGmbH).

Das Missverständnis, dass Kirche und Diakonie zwei sektoriell getrennte Bereiche wären, ist also schon in der Gründungsgeschichte verankert, genauso wie die gegenseitigen Verdächtigungen bis heute, dass die Diakonie „nicht mehr“ kirchlich und die Kirche „nicht mehr“ diakonisch wäre.

Wir müssen diese Defizitsicht auf den jeweils anderen Bereich endlich ablegen. Wir verspielen sonst eine große Stärke, die wir gemeinsam haben: nämlich das Vertrauen der Menschen, dass die Kirche (als ganze) das tut, was sie sagt, und das sagt, was sie tut!

Wenn es also heute darum geht, über Kirche und Diakonie in der Krise nachzudenken, dann gilt zu allererst: Diakonie ist Kirche. Und Kirche ist Diakonie.

 

II.

Ich rede heute hier als Diakoniepfarrer über die diakonische Dimension der Kirche Christi, nicht als Geschäftsführung übers Diakonische Werk. Also: Kein Jahresrückblick unserer fachlichen Arbeit. Kein Kopfsprung in die strategischen Herausforderungen der Diakonischen Werke. (Das wäre auch reizvoll, bei meinem Unternehmens vor allem wegen der Größenordnung: Nach Corona machen wir weiterhin alles außer Krankenhäuser macht und wollen der mit Abstand größter Wohlfahrtsverband bleiben möchte. Täglich erfüllen 1.600 Menschen ihren kirchlich-diakonischen Auftrag.)

Das also nicht, sondern: Ich möchte die Frage stellen, die auf eine Kreissynode gehört. Auf einer Kreissynode geht es um die verfasste Kirche, ihre Ordnungen und ihren Auftrag. Und die (theologische!) Frage lautet: Welche Diakonie möchte die Kirche?

1965 wurde der Synodalverband als Vorläufer des Diakonischen Werkes im KK Recklinghausen, gegründet, nicht um Kirchenkreis und Gemeinden vom Diakonischen zu befreien, sondern um das Diakonische der Kirche durch selbstständige professionelle Strukturen zu stärken.

Unser Modell in Recklinghausen ist ein subsidiäres – und das ist ein Unterschied zum Nachbarkirchenkreis: Kirchenkreis und Gemeinden haben bei uns alle professionellen Dienste, die früher in den Gemeinden waren, an die Diakonischen Werke delegiert. Dafür gibt es Kirchensteuer, die wir vorrangig für diese gemeindenahen Dienste nutzen: Schuldner-, Sucht-, Migration- und Wohnungslosenberatung, Hilfen für Frauen. Offene Ganztagsschule, Kindertagesstätten (Diakonie in RE).

Im Nachbar-Kirchenkreis ist es anders und ein Nebeneinander: Die Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden sind selber Träger von Beratungsdiensten. Das Diakonische Werk in Gladbeck-Bottrop-Dorsten hat v.a. die großen Einrichtungen wie Altenheim, Werkstätten, Wohnheime. Daher bekommt das Diakonische Werk dort keine Kirchensteuer, und die Gemeinden wenden für ihre Beratungsdienste ihre Kirchensteuer über die Gemeindepauschale auf.

Welche Diakonie möchte die Kirche? Ich stelle diese Frage, weil ich Antworten erwarte auf die Krisen beider Systeme. Die These ist einfach: Wir kommen nicht nebeneinander her durch diese Krisen, erst recht nicht gegeneinander, nur miteinander.

 

III.

Die jeweiligen Krisen sind unterschiedlich: In der verfassten Kirche merken wir, dass eine vereinshafte, rund um feste Gemeindegruppen orientierte Gemeinde nicht mehr flächendeckend funktioniert, spätestens seit der Pandemie. Auch schmerzhaft: Die Bedeutung des Gottesdienstes, selbst der Kasualien, schwindet. Es sinkt allgemein die Religiosität der Menschen (nicht nur die Kirchlichkeit) und die damit verbundene Erwartung der Menschen an Kirche. So hat es die 6. Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU) aufwirft. – Es gibt zudem in der Organisation Rückstände, besonders bei Digitalisierung und Finanzen.

Die verfasste Diakonie gehört zur Sozialwirtschaft, die das Deutsche Institut der Wirtschaft zu den fünf Krisenbranchen zählt. Nicht umsonst gab es am 19. Oktober eine große Demo vor dem Düsseldorfer Landtag (nicht nur für die Kitas). Die Kampagne „NRW bleibt sozial“ geht weiter.

Keiner glaubt, dass diakonische Träger wanken und z.B. ambulante Pflegedienste oder gar Altenheime schließen könnten. Das droht aber derzeit.

81% der diakonischen Träger innerhalb unseres Spitzenverbandes, der Diakonie RWL, werden das Wirtschaftsjahr 2023 mit einem negativen Ergebnis abschließen. Grund sind nicht nur hohe Tarifabschlüsse und Energie- und Sachkostensteigerungen. Oft fehlt inzwischen das nötige fehlendes Personal. Strukturelle Unterfinanzierung über Jahre sind nicht mehr zu kompensieren, auch durch die Verschuldung der Kommunen. Große Kostenträger wie der Landschaftsverband (Eingliederungshilfe) und die Pflegeversicherung (Altenheim) zahlen so spät, dass Träger ernste Liquiditätsproblem bekommen.

Besonders betroffen sind die so wie so schon unterfinanzierten diakonischen Beratungsdienste.

 

In diesen Krisen liegen gemeinsame Chance:

Kirche wird von immer stärker mit diakonischem Handeln verknüpft, auch wenn die Arbeit von diakonischen Trägern geleistet wird.

Die Menschen hält – trotz erhöhter Austrittsbereitschaft – in der Kirche, dass diese sich für Arme, Kranke und Bedürftige einsetzt und für mehr Gerechtigkeit in der Welt.

Diakonie braucht Kirche, weil Mitarbeitende nach der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit und damit nach unserer Selbstverortung fragen – ein echtes Plus bei der Mitarbeitenden-Gewinnung.

Über die Gemeinden haben wir oft Kenntnisse und Zugang ins Sozialquartier, was andere Träger nicht haben.

Beide Diakonische Werke – das kreiskirchliche und das DW in Recklinghausen – haben eine klare Identität über ihre diakonischen Beratungsstellen. Viele dieser Dienste sind in Gemeindehäuser untergekommen.

 

IV.

Aber: Ein mehr oder weniger statisches Nebeneinander in gleichen Gebäuden und ein Fokus auf die klassischen Beratungsdienste allein wird aber zukünftig nicht reichen: Es fehlt oft eine wirkliche Vernetzung. Oder langjährige Projekte wie der Diakonieladen Waltrop ist nach Corona nicht mehr auf die Beine gekommen.

Kirche und Diakonie stellen beide berechtigterweise die Frage: Warum muss mit schwindenden Kirchensteuermittel Arbeitsbereiche finanziert werden, aus derer Finanzierung sich die öffentliche Hand immer stärker herauszieht? Anderseits sind es oft die ur-eigensten diakonischen Aufgaben, etwa sich um wohnungslose Menschen zu kümmern.

 

Es bedarf also neuer – gerne auch zusätzlicher – Ideen. Hoffnungsvolle Ansätze gibt es:

  • In Herten haben wir den Tagesaufenthalt für Wohnungslose in die Erlöserkirche verlagert, bewusst weil die Kirche leer stand und einen würdigeren Rahmen bietet als die Zelt-Landschaft hinter unserem Dienstehaus. Das hat zur Vitalisierung eines kirchlichen Ortes beigetragen und zur einer größeren Sichtbarkeit eines diakonischen Angebots. Erfolgsfaktor: Wir haben die Frage nach der Dauer des Projekts an einem Ort, den die Gemeinde verlassen wird, ausgespart. Das Projekt ist komplett mit Spenden der zusätzlichen Kirchensteuermittel aus der Inflationsausgleichszahlung finanziert.
  • Im Matthias-Claudius-Zentrum ersetzt der Ambulante Hospizdienst der Diakonie partiell die Altenheimseelsorge, die die Landeskirche längst, eingestellt hat. Ehrenamtliche werden von einer Koordinatorin begleitet.
  • In der Kirchengemeinde Haltern führt die Familienbildungsstätte der Diakonie ein Pilotprojekt durch: Gelingt es, Bildungsangebote im Gemeindehaus zwischen Kirchengemeinde und FBS so abzustimmen, dass beide einen qualitativen Schritt nach vorne machen?
  • Wärmewinter: Drei Gemeinden haben sich 22/23 am Wärmewinter beteiligt. Die ESM ist in diesem Winter mit drei Standorten vertreten; hier ist die Diakonie mit ihrem Speiseangebot vertreten, aber v.a. nutzt die Gemeinde ihre Räumlichkeiten für gemeindediakonisches Engagement weit über ihren Mitgliederkreis und feste Gruppen hinaus. Das Projekt wurde neben dem In-Door- Spielplatz in Herten mit dem Diakoniepreis 2023 ausgezeichnet.
  • Die Diakonie nutzt kirchliche Gebäude über die Gemeindehäuser hinaus, wie das Marler Pfarrhaus Westfalenstraße für eine Wohngruppe für Jugendliche. Wir bauen in Lippramsdorf eine WG für Kinder neben das dortige Gemeindehaus. Rund um die Pauluskirche in Marl hat die Diakonie seit Jahren eine enge Nachbarschaft. Die Diakonie in RE entwickelt das Gemeindehaus der Altstadtkirchengemeinde an der Holthofstraße in Hochlar – ein Kooperationsprojekt mit der Gemeinde und der Stadt.

Gerade bei Gebäuden und Liegenschaften liegt eine große Chance eines neuen Miteinanders zwischen Kirche und Diakonie. Wirklich sinnvoll ist dies zukünftig aber nur, wenn nicht die Diakonie einfach übernimmt, sondern kirchliche Flächen oder Immobilien einer neuen gemeinsamen Nutzung zugeführt werden: Anstatt dass Kirche sichtbar Orte verlässt und sich weiterzurückzieht, könnte ein neues Projekt entwickelt werden, wo Kirche – kleinergesetzt und anders kontextualisiert – bleibt.

Kleiner, aber weiter am Ort: Landeskirchenweit gibt es Unterstützung für sozialraum- und gemeindediakonisch orientierte Projekte durch das Institut für Kirche und Gesellschaft. Gemeinden setzen sich am vorhandenen Ort kleiner und holen weitere Partner für eine gemeinsame Idee hinzu, nicht einmal nur diakonische, sondern auch andere gemeinnützige Träger. Beispiele im Sauerland (Menden-Lendringsen) zeigen das: Auf einem kirchlichen Gelände entstehen Wohngebäude für Mehrgenerationen-Projekte, WGs für Menschen mit Behinderung, neue Kindergärten, ein offenes Bürgerhaus für den Stadtteil  –kleinere Räume für die Gemeindearbeit inklusive. Anstatt zu verschwinden, bleibt Kirche am Ort, selbst wenn Pfarrstellen reduziert werden.

Wir als Diakonie stehen für solche Projekte zur Verfügung, aber nur dann, wenn wirklich gemeinsame Interesse zu einem gemeinsamen Projekt zusammengeführt werden.

Solche Projekte dauern in der Entwicklung zwischen fünf und zehn Jahren. Die Gemeinden werden nicht zwingend Geld daran verdienen, aber können vorhandene Standorte durch eine Diversifizierung der Angebote und Partner halten bzw. neu qualifizieren. Die Diakonie kann kleinere und flexiblere Wohn- und Hilfeformen schaffen, da die Zeit der großen Einrichtungen zunächst vorbei ist.

Es setzt ein Selbstbild voraus, Kirche mit Anderen zu sein, sich zu öffnen und sozialraumorientiert zu denken. Kirchengemeinde müssen daran glauben, dass es gut ist, zu bleiben, indem sie einen diakonischen Impuls setzen.

Wer hat Lust, alte Kooperationen zu beleben und/oder über neue Idee nachzudenken? Wir brauchen nach Corona dringend Impulse, die nach vorne weisen und dem Abwärtstrend trotzig etwas entgegensetzen – gerade auch wenn die Realisation über die Ruhestandsgrenze von handelnden Personen hinausweist.

Ich lade Sie im Jahr 2024 ein, dass wir in jeder Gemeinde Formate entwickeln und durchführen, wo wir dieser Frage nachgehen: Welche Diakonie braucht die Kirche? Ich komme in Dienstkonferenzen, in Presbyterien, wir können Zukunftswerkstätten durchführen.

Wir schauen, was möglich ist. – Auch die verfasste Diakonie wird vielleicht nicht immer und überall mit Angeboten präsent sein können. Unsere Arbeitsfelder werden sich noch kurzfristiger verändern. Aber wir suchen Sie als unsere Partner.

 

V.

Zum Schluss: Ich deute nur an, wie ich auf die umgekehrte Frage antworte: Welche Kirche braucht die Diakonie? Zunächst eine, die sich nicht aufgibt. Eine, die nicht bei sich selbst bleibt, sondern die ihren Platz jenseits der eigenen Orte sucht. Die – auch kleiner und ärmer – profiliert und zuversichtlich die Liebe Gottes zu den Menschen bezeugt. Kurzum: eine diakonische Kirche, an die die kirchliche Diakonie vielfältig andocken kann.