Vielleicht hat Johann Hinrich Wichern diese Verse mit den Kindern und Jugendlichen im Rauen Haus in Hamburg gesungen: abends, wenn christliche Lieder erklangen, aus der Bibel gelesen wurde, im Advent der besondere Adventskranz mit den zahlreichen Kerzen dazu entzündet wurde…

Predigt Synodalgottesdienst, Kreissynode Recklinghausen, 2.12.2023

1831 ließ sich Wichern von reichen Freunden eine alte Bauernkarte schenken. Da hatte er sich schon in St. Georg, damals einem der schlimmsten Viertel Hamburgs, als Sonntagslehrer versucht und die Not der Bevölkerung, v.a. der Kinder und Jugendliche, kennen gelernt. Anders als in den kasernenhaften Waisenhäusern seiner Zeit lebten „nur“ ein Dutzend Kinder zusammen in einer Gruppe. Christliche Erziehung durch Erzieher bzw. das neue Berufsbild des Diakons gehörte zum Zusammenleben dazu. Und ein Aufnahmeritual: jedem neu aufgenommenen Kind wurde die Vergebung der Sünden zusprochen. Klingt patriachalisch, was es wohl auch. Aber gleichzeitig wurde dadurch keiner mehr wegen all dessen, was er durchs vorherige Leben auf dem Kerbholz hatte, durchgeprügelt oder benachteiligt: „Was du dir hast zuschulden kommen lassen, ist vergeben. Es steht hier nicht gegen deine Würde“, hieß es wörtlich.

Wenn einst erscheint des Menschen Sohn / in seiner Herrlichkeit, / dann geht von seinem Königsthron / Glanz der Gerechtigkeit.
Und um ihn her versammelt stehn / die Engel allzumal, und um des Thrones Stufen gehn / die Völker ohne Zahl.
Sie hören ihres Königs Wort / gleich Meeresbraus und Sturm; Eröffnet ist des Lebens Pfort / und auch des Todes Turm.
„Geht ein, Gesegnete des Herrn, / in eures Vaters Reich, nehmt hin den ew’gen Morgenstern, / all‘ euer Jammer weicht.“
„In Liebe habt ihr mich geliebt, / den Hunger mir gestillt, den Durst gelöscht, das Herz, betrübt / in Not, mit Freud erfüllt.“
So zündest du die Liebe an / im Glauben durch dein Wort bei deiner Krippe fängt sie an, / und ewig brennt sie fort.

Vielleicht haben die Kinder und Jugendliche, wenn das Lied gesungen worden sein sollte, auf den Text geachtet: die lyrische Aufbereitung des „Großen Weltgerichts“ (Mt 25). Wir hörten es gerade in der Lesung.

Welchen Zugang haben Menschen, Kinder allzumal, zum Evangelium und zum Glauben, wenn ihnen der Magen knurrt? Im Stadtteil St. Georg machte Wichern die Erfahrung: Selbst Liebe und Zuwendung sind nicht vorrangig, sondern ein Stück Brot oder ein Dach über dem Kopf.

Und dann dieser Text:

„Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben.“

„Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt“, sagt de Weltenrichter, „das habt ihr mir getan.“ Oder eben nicht.

 

Für mich ist es ein harter Text, weil er schonungslos aufdeckt: Die kleinen Dinge im Alltag entscheiden über Heil und Unheil, nicht mein Glaube, nicht was Jesus sagt (Redekomplexe des MtEv). In diesem Text nicht einmal die Taufe, sondern: das Tun des Richtigen.

 

Es geht wohl nicht um eine klassische Werkgerechtigkeit, also dass ich mit meinem richtigen Tun das Heil bewirken könnte. Sondern diese Geschichte beschreibt, wie man Gott, den Vater Jesus Christi, erfährt – oder eben nicht erfährt.

 

Für die Ohren der Kinder und Jugendlichen in St. Georg mag genau das ein Zugang zu Gott gewesen sein: Ich war hungrig, und ihr habt zu essen gegeben – wo ich erlebe, dass jemand sich mit mir solidarisiert, da hat das mit Gott zu tun, da erkenne ich Gott. Und andersherum: Da wo es nicht passiert, verliert sich die Sache mit Gott…

 

II.

Zitat Wichern: „Es gibt Reviere in den Städten, wo es physisch unmöglich ist, dass die Geistlichen die Aufgaben lösen. Sie können sich nicht um alle bekümmern, die in völliger Isolation von der Kirche leben. Diese bleiben daher ohne kirchliche Pflege, ihre Kinder werden getauft, und sie selbst vielleicht auch getraut. Da ist ihr ganzer Zusammenhang mit der Kirche. […] Die Stellen auf dem Land sind nicht so selten, wo sonntags ziemlich regelmäßig nur drei, vier oder zehn Menschen im Gotteshause zu finden sind.“

 

Das kommt mir bekannt vor. Bei Wichern wuchs damals die Erkenntnis – nicht aus Empörung über seine Kirche, sondern als theologische Einsicht: „Wer im sozialen Elend hockt, denkt nicht zuerst über geistliche Fragen nach.“ (Annette Kurschus, Andacht zum 175. Jubiläum der Diakonie)

 

Aber umgekehrt geblickt wird daraus für die Kirche ihre ureigene Aufgabe: Wer im himmelschreienden materiellen Elend steckt, hat auch ein geistliches Elend. Und daher kommt die Kirche um ihrer Botschaft willen nicht um das rettenden Handeln – #aus Liebe – herum!

 

Die zitieren Sätze gehören zur Stegreifrede Wicherns auf der Wittenberger Kirchenkonferenz 1848. Wichern fordert eindringlich, dass die Kirche endlich eine eigene Antwort auf die bohrende Soziale Frage der Industrialisierung finden müsse. „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“. Im Tun wird genauso der Glaube bekannt wie im Predigen oder dem Gottesdienst.

Am Ende des Tages wird in Wittenberg beschlossen, einen Centralausschuss für Innere Mission zu gründen – die Geburtstagsstunde der modernen Diakonie.

 

III.

„Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchte es allen, die im Hause sind. So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euerm Vater im Himmel preisen.“

 

So heißt es an anderer Stelle im MtEv. In der Bergpredigt ermuntert und ermutigt Jesus uns, die anvertraute Botschaft sichtbar werden zu lassen: für unsere Zeit. Für das Leben der Menschen, denen wir begegnen. Mit der Zuversicht, dass das Licht leuchten wird vor den Leuten, denn es sind ja nicht wir, sondern Christus, das „Licht der Welt“.

 

Ich bin sehr davon überzeugt, dass – ähnlich wie im 19. Jahrhundert – die Kirche in den heutigen Transformationen ihre Chance hat, wenn sie eine diakonische, eine handelnde Kirche ist. Denn ähnlich wie zur Wichern-Zeit nehmen Nöte, Zukunftsängste und Ungewissheiten zu. Kirche ist durch ihre Diakonie nah auch bei den Menschen, die nicht unbedingt religiös sind. Diese Menschen erleben aber die frohe Botschaft im Tun unserer Mitarbeitenden: Diakonie quasi als Pantomime des Evangeliums.

 

Gleichzeitig lerne ich heute Wicherns Begriff von der Inneren Mission neu schätzen: diese enge – vielleicht damals auch zu enge – Verknüpfung von sozialer und geistlicher Not ist mir wichtig geworden. Das Tun ist das eine. Wir haben einen reichen Schatz an Texten und Liedern, Worte und Verheißungen, die es wert sind, lieber einmal mehr als zu wenig gesagt zu werden. Inzwischen sind es oft fremde Texte und Botschaften geworden, die neue Faszination entfachen können: in den Kindertagesstätten, in Gemeindegruppen, in der Erwachsenen- und Familienbildung.

 

Kirche war lange Jahrzehnte sozialpolitisch wach, aber ihre Positionen haben zuletzt das Eigene verloren. In der Stellungnahme zur Reform des §218 kam zuletzt weder eine theologische noch biblische Anleihe vor. Wer soll uns das abnehmen? Wo sehen die Leute, dass wir das Licht auf einen Leuchter stellen? Und wo ist die vernehmbare kirchliche Botschaft in der Debatte?

 

Rettung und Liebe, Glaube und politischer Verstand, Mission und Diakonie – das ist die Chance einer kleiner werdenden Kirche, wenn sie das unerschrocken und mutig miteinander verknüpft.

 

„Wir haben die Menschen in Scharen verloren“, sagte mal der mitteldeutsche Bischof Axel Noack auf die DDR-Kirchen bezogen. Und für die Gegenwart heißt das: „Wir gewinnen sie nur einzeln zurück.“ – Das aber ist unaufgebbar Aufgabe der Kirche: dass sie wachsen will (nicht unbedingt „gegen den Trend“, aber „zu dem hin, der das Haupt ist: Christus“.

 

Die Kirche im 19. Jahrhundert ist durch die Innere Mission, die heutige Diakonie, in neue Bevölkerungsschichten eingedrungen. Sie hat berufliche wie kirchliche Berufsbilder wie das des Erziehers, der Krankenschwester, der Diakonisse und des Diakons erfunden. Sie hat ganze Stadtteile erbaut wie Bethel oder Kaiserswerth. Sie war keine Anhängerin der Demokratiebewegung, hat sich aber für die Erschaffung des Sozialstaats eingesetzt.

 

Die Kirche ist nicht von der Bildfläche verschwunden. Sie hat nicht aufgegeben. Sondern sie hat Ihre Botschaft und ihr Handeln in neue Kontexte gebracht. – Sie hat vor allem gemerkt, dass sie nicht um ihrer selbst da ist. Sondern Kirche ist und bleibt da für „für die Leute, denen das Licht leuchten soll“, das „Licht der Welt“, auf dessen Geburt wir uns in den nächsten Wochen in Tat und Wort vorbereiten:

 

„6. So zündest du die Liebe an / im Glauben durch dein Wort /bei deiner Krippe fängt sie an, / und ewig brennt sie fort.“