Wärme ist keine Frage der Temperatur. Ich kann mir die stille Nacht, heilige Nacht, mit Wind und Kälte vorstellen – und doch voller Geborgenheit und Innigkeit. Selten wie in diesem Jahr haben wir so viel über Wärme gesprochen.
Predigt Heiligabend Lippramsdorf zu Lukas 2
Unerträgliche Hitze im Sommer. Bange Frage nach den Gasvorräten als Folge des Angriffskrieg Russland auf die Ukraine. Und auch das: Menschen in Eiseskälte in den zerbombten Städten und auf der Flucht.
Allenthalben Unsicherheit und Angst auch bei uns. Vor allem unter jungen Menschen: 86 von 100 Jugendlichen machen sich Sorgen um ihre Zukunft (Vodaphone-Studie).
Ich sehne mich in dieser Nacht der Nächte nach Wärme. Nach Frieden und einem sicheren Tritt für meine Hoffnung. Uns schlägt die rettende Stund‘ – wie ungläubig schaue ich mich um?! Fehlt es nicht auch am Glaube, dass Gott in unsere Welt kommt, damit Friede wird? Trauen wir uns überhaupt zu denken, dass ein Kind der Retter der Welt geworden ist (und im Umkehrschluss eben kein Messi, der nur göttlich Fußballspielen kann, oder auch kein Elon Musk, der über die Nachrichten-Welt herrscht)?
Wärme ist keine Frage der Temperatur.
Im Eis der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges haben sich die Soldaten an die wärmenden Worte der Weihnachtsgeschichte geklammert – und für einige Stunden das Feuer eingestellt.
Erstarrt vor Angst, eine Krankheit nicht loszuwerden und zu sterben, hören Menschen Abend von den hellen Liedern der Engel: „Hirten, warum wird gesungen? Welch ein Sieg ward denn errungen?“ – Erhellt es ihr Leben, dass auch ihnen der Erlöser erschien?
Was wärmt Ihre Seelen? Wo fröstelt es Ihnen?
II.
„Welt in Aufruhr“ – so der Titel einer Chagall-Ausstellung, die ich mir neulich in Frankfurt angeguckt habe. Hochkonzentrierte Besucher, betroffen, weil die Bilder unseren Lebensnerv treffen und in unsere „Welt in Aufruhr“ hineinsprechen.
So wie das Bild „Dorfmadonna“. Marc Chagall malte es zwischen 1938 und 1942, eine Zeit mit den ähnlichen Themen: Unten links seine Heimat im heutigen Belarus, zur Zeit des deutschen Russlandfeldzuges. Chagall, der jüdische Maler, hatte fliehen müssen, schaffte es über Frankreich nach Amerika.
Sein „Schtetl“ ist für Chagall immer wieder Ausgangspunkt. Die Kerze über dem Dorf kann es nicht mehr alleine erhellen. Krieg und Flucht wiegen schwer wie dunkle Wolken.
Nichts wärmt! – Nichts wärmt?
Wenn man genau hinschaut, sieht man auf den Häuserfassaden einen kleinen Abglanz von den Farben, die den Rest des Bildes dominieren. Farbenfrohe Farben für eine himmlische Darstellung: Engel. Eine Marienfigur mit dem Jesuskind (daher der Titel „Dorfmadonna“). Der Jude Chagall spielt auch mit christlichen Symbolen. Und er knüpft an an die die Verheißung der hebräischen Bibel, die unsere Adventstexte geworden sind. Bei Jesaja heißt es: „Ich will euch trösten“; spricht der Herr, „wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jes 65,13)
Zwischen Maria und Jesus ist diese Wärme, diese Herzlichkeit und innige Liebe zu sehen.
Genauso das Versprechen Gottes, wie er sich zu uns Menschen stellt, indem er selber Mensch wird: Mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht komme ich zu euch: mitten in eure Alltagssorgen.
Diese Bewegung Gottes in die unerlöste Welt hinein … das ist eben kein „alles wird gut“ (Nina Ruges jahrelange Abmoderation). Sondern: Alles wird neu.
Es ist nicht so, dass sich alle Sorgen in Luft auflösten. Sondern dass Hoffnung wächst, durch alle Sorgen hindurch: Wer noch zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein… (Jochen Klepper vor genau 85 Jahren)
III.
Der Kern der Weihnachtsbotschaft, es ist der Ruf des Engels: „Fürchte dich nicht!“ Hab keine Angst! Maria hört ihn schon zuvor, als sie ungewollt schwager geworden ist. Josef hört die Worte, um zu seiner Frau stehen zu können (Mt 1,20). – Angeblich 365 mal steht dieser Satz in der Bibel, für jeden Tag im Jahr einmal: Fürchte dich nicht!
Ich höre das „Fürchte dich nicht“ in diesem Jahr besonders deutlich:
Wir leben mit neuen Ungewissheiten. Wir haben meistens keine eigenen Lebenserfahrungen mit Kriegsgefahr, mit einer Inflation. Wir wussten schon lange, dass unsere Gesellschaft älter wird und der Wohlstand gefährdet ist. Wir konnten lange den Klimawandel verdrängen. Auch die Kirchen stehen vor einer ungewissen Zukunft: Christen sind Minderheit in diesem Land geworden. Christliches Wissen und kirchliches Leben schwinden – aber nicht das erste Mal in der Kirchengeschichte…
Wohin fällt da unser Blick? Oder nochmals mit Chagall gefragt: Fällt der Blick eher auf das Dunkel im „Schtetl“? Oder öffnen wir uns dem größeren Teil des Bildes, dass Gott unser Leben umhüllt und es heller und wärmer machen kann als es unsere kleinen Kerzlein vermögen?
Ehrlich gesagt: Ich bin viel zu oft bei der der Angst. So sehr Angst auch eine lebensrettende Funktion hat: Im geistlichen Sinne ist sie eher destruktiv und selbstbezogen.
Nur ein Beispiel: Als eine junge Frau in Haltern eine „Friday For Future“-Gruppe gründen wollte, fand sie keinen Ort für die Treffen und wurde in den sozialen Medien massiv beschimpft – wohl Ausdruck der Angst Anderer, die sich keinen Spiegel vorhalten lassen wollen.
Gleichzeitig aber drückt sich auch bei der jungen Generation eine fast schon apokalyptische Angst aus: Als ob der absolute Untergang nahe bevorstünde. Eine solche Angst aber lähmt und führt zum Gegenteil dessen, was eigentlich nottut: sachlich zu analysieren und dann mit einer Hoffnungsperspektive die Zukunft zu gestalten.
Seit dem 24. Februar ist tatsächlich ein positiver Veränderungsdruck entstanden, gerade beim Klimathema. Endlich bewegt sich was, aber es braucht Ausdauer! Und tatsächlich: Auch Reibung erzeugt Wärme. Und ich wünsche mir auch in der Kirche mehr konstruktive Auseinandersetzung mit den Jüngeren, eben damit Ängste nicht dominieren und Zukunft verknüpft ist mit Hoffnung, dass Gott diese Welt hält! Das wäre auch eine relevante Botschaft für eine kleiner – aber eben nicht unwichtiger – werdende Kirche!
IV.
Bei Chagall ist die Angst nicht sofort weg. Auf dem Gemälde hat die Welt ihre dunklen Flecken. Chagall lässt sich aber nicht von der Angst beherrschen. Vielmehr drücken seine Bilder immer wieder die Sorge seiner Mitmenschen umeinander aus und wie sie sich gegenseitig helfen und stützen können.
Angst – gerade im weihnachtlichen Sinne – wird zur Sorge. Angst wird zur Sorge, die eben nicht egozentrisch ist und sich vom Anderen abwendet, sondern in Beziehung führt (Martin Heidegger):
Zuerst in Beziehung zu sich selbst (Selbst-Sorge): Welche Hoffnung schulde ich mir eigentlich selber? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Traue ich dieser einen Nacht, der Weihnachtsnacht, mehr als allen anderen Nächten? Wo darf ich verweilen oder sogar aus dem normalen Lauf aussteigen, wie die Hirten, die sich einnehmen lassen von diesem einen Moment, als der Anblick des Jesuskindes ihr Leben verändert?
Sorge nimmt den Nächsten in den Blick (Für-Sorge): Wo brauchen mich andere? Wo kann auch das Leben einer Kirchengemeinde eine neue eigentümliche Kraft gewinnen, wenn man nicht bei sich selbst bleibt sondern die weihnachtliche Wärme der Gottesliebe in eigene Nächstenliebe ummünzt? – Manche Gemeinden haben begonnen, Menschen in ihre Gemeindehäuser einzuladen zum „#Wärmewinter“, um ein Zeichen zu setzen: Wir teilen Zeit und Tisch und unsere Sorgen und Ungewissheiten, anstatt in den Online-Medien den Frust rauszukehren oder den säuberlich gestreuten Hass „auf die da oben“ auf die Straße zu tragen.
Wärme entsteht, wo wir uns gegenseitig wieder für einander zu interessieren beginnen, Nöte sehen. Der Kriegstreiber will genau diese Solidarität der Starken gegen die Schwächeren unterminieren, die unsere demokratische und soziale Gesellschaft ausmacht!
Und schließlich blickt die Sorge -anders als die Angst – nach vorne in die Zukunft (Vor-Sorge): Als Christ ziehe ich meine Lebenskraft und mein Vertrauen daraus, dass die Zukunft gestaltbar ist und bleibt. Wir leben in Zeiten großer Risiken, ja! Aber nicht des Weltuntergangs. Keine Panik, aber auch keine Sorg-Losigkeit! Sondern Sorg-Samkeit, dass die nötigen Veränderungen nun auch angegangen werden. In dieser Sorge steckt der Anspruch, dass es Gott nicht egal ist, was wir aus der Welt machen. Genauso steckt der Glaube darin, dass Gott diese Welt längst gerettet hat: Heut schleusst er wieder die Tür zum schönen Paradeis…“ – Nicht weniger als das verlorene Paradies!
V.
Wärme ist keine Frage der Temperatur.
Wärme steht für den nahen Gott – selbst, wo die Nächte dunkel sind.
Wärme steht für das Miteinander der Menschen: Wärmewinter – statt heißer Herbst!
Wärme steht für die Farben, mit denen Chagall die Hoffnung über sein „Schtetl“ malt.
Oder um es mit seiner jiddischen Sprache auszudrücken: Im Wort „Schlamassel“ (Unglück) steckt das Wort „Massel“ (Glück) …