miteinander – strategisch – mittendrin: Zukunft von Kirche und Diakonie im Kirchenkreis

Hat die Kirche in der Corona-Krise „qualifiziert geschwiegen“ (Sozialethiker Ulrich Körtner)? „Meine“ Kirche hat vor allem „qualifiziert gehandelt“: Denn die Kolleginnen und Kollegen der Diakonie waren „24/7“ da, in Altenheimen, Wohnformen, Werkstätten, Beratungsstellen.

„miteinander – strategisch – mittendrin: Zukunft von Kirche und Diakonie im Kirchenkreis“, Impuls auf der Tagung der fakt, 11. März 2021

 

  1. Unterschiedliche Systeme ins Cross Over bringen

Damit sind wir in einer 175 Jahre alte Debatte, nämlich wie wir „Diakonie“ mitmeinen, wenn wir von „Kirche“ sprechen. Klassisch und richtigerweise gehören verfasste Kirche und verfasste Diakonie unterschiedlichen Systemen an, schon systemtheoretisch bei Luhmann.[1]

Die verfasste Kirche ist mitgliedschaftsorientiert (theologisch begründet in der Taufe, strukturell durch das Ortsprinzip). Die verfasste Diakonie hingegen ist keine Glaubensgemeinschaft[2], sondern eine Dienstgemeinschaft von zumeist Hauptamtlichen, die nicht mehr alle zwingend getaufte Christ*innen sind und sein müssen.

Die „Diakonie“ als Wohlfahrtsverband steht in einer „doppelten Loyalität“ (Herbert Lindner) zwischen verfasster Kirche und Sozialstaat. Sie partizipiert am kirchlichen Selbstbestimmungsrecht nach dem Grundgesetz, könnte zur Not als Sozialverband auch ohne Verbindung zur verfassten Kirche bestehen.[3] Auch benötigt sie zuweilen zur eigenen Profilierung noch mehr Emanzipation von der verfassten Kirche.[4]

Gerade in der Pandemie hilft sektoriell getrenntes Denken aber nicht weiter. In und nach der Corona-Krise hilft uns – wie im Tagungstitel angelegt – das strategische Miteinander.

Die jeweilige Stärke besser und selbstverständlicher aufeinander zu beziehen, wäre die Antwort auf die kritischen Fragen gewesen, wo Kirche in der Coronakrise stand und steht. In meinen Augen ist es ein Versäumnis der Amtskirche in der Pandemie: Hätte sie selbstbewusster verfasste Diakonie mit im Munde geführt, stimmte der Vorwurf nicht, dass „die Kirche“ nicht bei den Menschen gewesen wäre. Stattdessen wurden fehlende Systemrelevanz und weiterer Relevanzverlust beklagt oder trotzig die kreativen Aufbrüche in Ortsgemeinden beschworen.[5] Beides birgt Kränkungspotential.[6]

Wir könnten es noch mehr mit einer Art „Cross-Over“ versuchen, wie man es in der Musik kennt: zwei Stilistiken aufeinander beziehen und einen neuen – vielleicht auch verfremdeten – Klang schaffen:

  • Wie hat sich denn (gerade zur Corona-Zeit) die Diakonizität der Kirche in der Ortsgemeinde neu gezeigt, als keine Gottesdienste stattfanden, aber Hilfenetzwerke wuchsen mit kreativen Wegen zu den Menschen?
  • Und umgekehrt: Wie schmerzhaft sind gerade auch in diakonischen Einrichtungen Gottesdienst und Seelsorge als wichtige kirchliche Grundfunktionen eingeschränkt gewesen oder weggefallen?

Oder: Man könnte auf bei aller Eigenlogiken beider Systeme auf die Scharniere schauen – und hier wäre ich bei den gemischten Teams, zunächst ungeachtet der satzungs- und kirchenrechtlichen Verankerung (Malte Graf von Westarp im Anschluss).[7]

 

  • „Gemischte Teams“ & Begegnungsorte[8]

Ich spreche ich hier nicht über ein gemischtes Teams aus Kauffrau und Theologen innerhalb eines DW, sondern über das Zusammenspiel von verfasster Diakonie und verfasster Kirche. Mindestens zwei Sonderheiten:

  • Ich bin in meiner Person schon ein gemischtes Team: Kreispfarrer mit aller dienstrechtlichen kirchlichen Einbindung (Ordination/Kirchenordnung etc.) und Geschäftsführer mit allen Ansprüchen des Handels- und Gesellschaftsrechts.
  • Das „gemischte Team“ von Geschäftsführung und Superintendentin bei uns ist ein Team von Leitung und Aufsicht (auf Diakonie-Seite) und Pfarrstelleninhaber und direkter Dienstvorgesetze (auf Kirchen-Seite) – insofern ist es kein Team „auf Augenhöhe“.

Wo liegen gemeinsame Interesse und Handlungsfelder?

 

  1. Förderung der diakonischen Arbeit der Kirchengemeinden im Sozialraum

Gerade regionale Diakonische Werke haben den Auftrag wie die Stärke, vor Ort in das jeweilige Gemeinwesen mit seinen politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren eingebunden zu sein: Einrichtungen befinden sich den Stadtteilen und Quartieren, in denen die Kirchengemeinden ihre Gemeindebezirke haben. Pfarrerinnen und Pfarrer und die Leitungsgremien der Gemeinden kennen die soziale Situation der Menschen. Daraus können idealtypisch sehr passgenau Bedarfe der Menschen abgeleitet und neue diakonische Angebote entwickelt werden.

Beispiele:

  • Gespeist von Kollektenmittel schreiben Kirchenkreis und Diakonie in Recklinghausen einen jährlichen „Diakoniepreis“ aus, auf den sich Kirchengemeinden mit gemeindediakonischen Projekten (Bildungs-, Jugend-, Frauen-, Flüchtlingsarbeit) bewerben können. Diese Projekte gewinnen Öffentlichkeit. Es geht oft nicht um ein Mehr an Aufgaben, sondern eher um eine neue Darstellung und Bewusstmachung, dass schon Gemeinden diakonisch tätig sind.
  • Gemeinsame gebäudliche Nutzungen schaffen („Diakoniestation im Gemeindehaus“, „Frühförderstelle neben dem kirchlichen Kindergarten“, „Vesperkirche“)
  • Neuentdeckung des Amtes der Diakonin/des Diakons: In Gemeinden der Ev. Kirche von Westfalen entstehen derzeit „interprofessionelle Teams“ aus Pfarrpersonen und Diakoninnen/Diakonen, um aus unterschiedlichen Professionen heraus Gemeindearbeit neu zu profilieren. Dadurch entsteht ein neues diakonisches Profil der Gemeinden, gerade auch durch Tätigkeiten, die paradoxerweise lange Jahre pfarramtlich besetzt waren (Jugend- und Konfirmand*innenarbeit, Besuchsdienste, Kasualien). Für die verfasste Diakonie entsteht ein neuer Anknüpfungspunkt z.B. für Jugend- und Familienhilfe und ambulanten Altenpflege.
  1. Verknüpfung von Diakonie und synodalen Dienste auf Kirchenkreisebene

Als Diakoniepfarrer bin ich eingebunden in die Dienstekonferenz des Kirchenkreises, die alle Bildungsbereiche (Kita-Verband, Jugendreferat, Schulreferat, Erwachsenenbildung) und Seelsorgebereiche (u.a. den Ambulanten Hospizdienst und eine Projektstelle für quartiersbezogene Seelsorge an alten Menschen) umfasst. Inhaltliche Scharnierstellen liegen auf der Hand, eine strukturelle Ungleichheit soll aber gleich mitgenannt werden.

Folgende kleine Anekdote: Ein gemeinsames Druckerzeugnis sollte alle synodalen Dienste aufführen, „die Diakonie“ gleichumfänglich wie z.B. das Umweltreferat. Trage ich also mit einer Selbstbeschreibung des Diakonischen Werkes in einem solchen Leporello eher zur Präsenz Diakonie im Bereich des Kirchlichen bei – oder zur ungewollten Selbstverzwergung? Faktisch kann ich das DW nicht mit drei Sätzen vorstellen.

Es gehört zur Ehrlichkeit des Verhältnisses von Kirche und Diakonie dazu, dass Größenverhältnisse, Strukturtiefe und wahrscheinlich auch gesellschaftliche Relevanz und Sichtbarkeit sich in den letzten Jahrzehnten vertauscht haben. Überheblichkeit auf der einen wie Neid auf der anderen Seite sind nicht förderlich, aber immer eine Gefahr.

Dennoch steht die Diakonie selbstverständlich auf dem Leporello. Es geht um den gemeinsamen Resonanzraum:

  • Gemeinsames FSJ-Referat
  • Beheimatung des Ambulanten Hospizdienstes in einem der diakonischen Altenheim beheimatet.
  • eine gemeinsame Stiftung für Kirche und Diakonie.

Gemischte Teams bestehen aus vielen Allianzen!

 

  1. Gesellschaftspolitisches Mandat und anwaltschaftliche Vertretung

Konkret zu den gemischten Leitungen: Superintendentin und Diakonie-Geschäftsführung setzen gesellschaftspolitische Impulse – ob sie wollen oder nicht. Sie tun dies aus unterschiedlichen Systemen heraus, und können hier geschickt ihre unterschiedlichen Rollen ausspielen. Denn beide Systeme kennen Spagate, die ihre gemeinsame Glaubwürdigkeit schmälern oder fördern können (die verfasste Diakonie: den Spagat, zwischen anwaltschaftlicher Vertretung und unternehmerischen Interessen; die verfasste Kirche: zwischen profilierter gesellschaftspolitischer Stellungnahme und volkskirchliche Grundakzeptanz).

Beispiele:

  • Kirchliche Positionen in der „Flüchtlingskrise“ (2015) finden Akzeptanz, weil beide Systeme zur Arbeit mit Flüchtlingen bereit waren.
  • Pflegepolitik oder Armutslagen kritisieren kann die Kirche anders, wenn ihr eigener Sozialverband selber als Träger fungiert.

Insofern begegnet eine Superintendentin dem Bürgermeister in einer anderen Rolle (z.B. Ökumene) als ein Diakonie-Geschäftsführer (z.B. Wohlfahrt[9]). Andererseits wird öffentlich aber genau wahrgenommen, wenn z.B. der Rat der EKD und der Diakonie-Präsident in einer so wichtigen ethischen Frage wie der Suizidassistenz so unterschiedliche Positionen präsentieren.

 

  1. Darstellung und Unterstützung der Kirchlichkeit der Diakonie

Eine wesentliche Scharnierstelle: alles, was die Kirchlichkeit der verfassten Diakonie unterstreicht. Mit der veränderten Loyalitätsrichtlinie von 2016 wandert die Verantwortung für die evangelische Prägung – berechtigterweise – weg vom einzelnen Mitarbeitenden zu den kirchlichen bzw. diakonischen Trägern selbst. Da wartet eine Aufgabe besonders auf die diakonischen Träger, v.a. auch vor dem Hintergrund einer konfessionell pluraler werdender Mitarbeitendenschaft.

  • Präsenz in Leitungskonferenzen
  • Mitprägung der kirchlichen Kultur (Mitarbeitendengottesdiensten, ggf. Jubiläen, Verabschiedungen, Fortbildungen)
  • Die gemischten Teams können gemeinsame Aktionen aufnehmen (wie z.B. „Türen der Gerechtigkeit“ zum Reformationsjubiläum).

Die verfasste Kirche hat strukturell Verantwortung zu übernehmen, wo ein diakonischer Träger die Kirchlichkeit nicht alleine erweisen kann (z.B. in der Altenheimseelsorge oder Seelsorge an Menschen mit Behinderung).

Kirchliche Finanzierung von diakonischen Diensten, die keine auskömmliche Kostenträgerstruktur aufweisen, aber als unverzichtbare „kirchliche“ Aufgabe gelten (z.B. Beratungsangebote).

 

  1. „Diakonie“ und „Kirche“ gehören zusammen – aber wie? – Herausforderung an unser Kirchenbild

Wie funktionieren wir als Teams? Die Antwort hängt meiner Einschätzung nach vor allem davon ab, welches Bild von Kirche uns theologisch leitet. Welche Ekklesiologie eignet sich für die Grundannahme, dass Kirche und Diakonie aufeinander bezogen sind?

Kirche sollte öffentliche Kirche sein, mit einer starken akklamatorischen Funktion, für andere und mit anderen zu sprechen und zu beten und sich als zivilgesellschaftlicher Akteur einzubringen. Kirche dürfte dann nicht in eine (nur noch funktionale) Servicekirche oder (nur noch privatistische) Sekte kippen (Wolfgang Huber in Anlehnung an Dietrich Bonhoeffer: Kirche zwischen Arkandisziplin und Boulevard).

Kirche wäre zu denken als stark vor Ort, aber nicht vorrangig als vereinshafte Gruppen- und Gemeindehaus-Kirche, sondern mit geöffneten Türen ins Sozialquartier, im Netzwerk mit allerlei gesellschaftlichen Akteuren, auch der verfassten Diakonie.[10] Kirche wäre nicht mehr nur Ortskirche, sondern ein Netzwerk kirchlicher Orte (Uta Pohl-Patalong), und Altenheime, Behindertenwerkstätten, Wohnformen wären solche kirchlichen Orte[11],gleichrangig im Bewusstsein verankert wie Kirchen, Gemeindehäuser, Kindergärten.

Ich ende daher konkret mit einem inneren Bild: Ich möchte gerne mal die digitale Landkarte unseres Kreises Recklinghausen sehen, in die wir verfasst-kirchliche und verfasst-diakonischen Orte unserer Sozialquartiere verzeichnet haben, die dort zugänglichen Leistungen beschrieben und personelle Verantwortlichkeiten aufeinander bezögen hätten. Wir miteinander – strategisch – mittendrin …

 

[1] Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, Gütersloh 2010, 130f.

[2] „Eine Dienstgemeinschaft muss keine Glaubensgemeinschaft sein: aber sie muss sich auf Dienstfragen als Glaubensfragen ansprechen lassen. In diesem Sinne muss Diakonie Kirche bei Gelegenheit sein.“ (Moos, Kirche bei Gelegenheit, Zeitschrift Ev. Kirchenrecht 58, 274.

[3] „Die Eigenständigkeit der Diakonie in der Gestalt ihrer eigenen Angelegenheiten ist aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche abgeleitet und ohne dieses Selbstbestimmungsrecht nicht zu begründen. Aber die Diakonie könnte auch ohne Verbindung mit der Kirche als Sozialverband unter anderen agieren; leistungsfähige diakonische Unternehmen sind für ihre Wachstumsstrategie nicht auf die organisatorische Verbindung mit der Kirche angewiesen.“ (Wolfgang Huber, Diakonie und Kirche, in: Fachtag Diakonie und Kirche – gemeinsam auf dem Weg, 14.)

[4] Vgl. Rainer Anselm: Kostenträgerorientierung, unternehmerische Marktorientiertung.

[5] Heike Springhart, Wer redet, wenn „die Kirche“ redet?, Zeitzeichen 8/2020, https://zeitzeichen.net/node/8358

[6] In dieser Pandemie haben Politik und Wissenschaft eine dominierende Rolle gegenüber allen zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Meinungsbildungsprozessen eingenommen. Nicht nur kirchliches Gemeindeleben findet eingeschränkt statt. Gleichzeitig kommen Kirchengemeinden – stärker als größere diakonische Einrichtungen – an strukturelle und organisatorische Grenzen. Somit ist der Vorwurf Heribert Prantls, „die Kirchen“ hätten sich mehr um Infektionsschutzkonzepte als mit der Bibel beschäftigt, ebenso richtig wie ungerecht.( Heribert Prantl, Was war mit Glaube, Hoffnung, Liebe, SZ 7. August 2020.)

[7] Wohlwissend wie unterschiedlich bereits in unserem Landesverband, der Diakonie RWL, mit drei evangelischen Landeskirchen, die Strukturen für theologische Leitungen in der kreiskirchlichen Diakonie sind.

[8] Ich blicke auf eine spezifische westdeutsche Situation mit einer womöglich typischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten: Die Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen wurde 1965 als Synodalverband aus einer Kreissynode heraus gegründet, also als eine Einbettung von organisatorisch eigenständigen diakonischen Dienste und Einrichtungen der Kirchengemeinden. Seit 1974 als Diakonisches Werk in Vereinsform fortgeführt, entstanden dann eigene Einrichtungen direkt auf Kirchenkreisebene. Das DW entwickelte eine multiprofessionelle Führungsstruktur, zwischenzeitlich sogar mit einem Dreifach-Vorstand aus einem Theologen, Kaufmann und Sozialarbeiter. Anfang der 2000er-Jahre dann entstand eine Holding-Struktur mit heute acht (g)GmbHs, einer doppelten Geschäftsführung (Theologe – weiterhin als Diakoniepfarrer – und Kauffrau) mit klarer Trennung von Aufsicht und Leitung nach dem Diakonischem Corporate Governance Codex. Seit fünf Jahren gibt es zudem einen Dachverein, der das benachbarte DW einschließt und das gemeinsame regionale Diakonische Werk für zwei Kirchenkreise bildet. (Zur historischen Entwicklung vgl. Schildmann, Kreiskirchliche Diakonie zwischen verfasster Kirche und diakonischer Unternehmung, in: Beate Hofmann/Martin Büscher (Hg.), Diakonische Unternehmen multirational führen, 231-238.)

 

[9] Die Diakonie ist als Wohlfahrtsverband anders in politischen und fachlichen kommunalen Gremien verankert, und eine andere Rolle wird – bis in die Kirche hinein – akzeptiert.

[10] Diese Ausdifferenzierung fand in der Debatte um die „11 Leitsätze“ der  EKD „für eine aufgeschlossene Kirche“ nicht statt.

[11] Vielleicht würde daraus sogar eine eigene Gestalt von Kirche (Fichtmüller: „Diakoniekirche“ jenseits vom üblichen Mitgliedschaftsprinzip Matthias Fichtmüller, Diakonie ist Kirche. Zur Notwendigkeit der Genese einer Diakoniekirche, Baden-Baden 2019.