Corona – Stresstest für die Gesellschaft

Corona hat wie ein Brennglas gewirkt für alle Entwicklungen, die es vorher schon gab: die Zerklüftung von Bildungschancen und Lebenschancen, Klimawandel, Demokratie, Kirche in der Säkularität. Leben in Digitalität. Alles ist intensiver, beschleunigter, sichtbarer. Darin liegen Chancen und Gefahren!

Impuls: Wir erleben wir Corona in den unterschiedlichen Lebensbereichen? Wie können und sollen die Kirchen agieren? – Impuls Tagung IKG Villigst, 13.11.2020

Persönliche Einordnung

Wie habe ich Corona persönlich erlebt? Einige Spiegelstriche:

Keine Kinder – kein Problem mit KiTas oder Schulen.

Beamtenstatus. Arbeitszimmer. Garten. Merkwürdig: Ehefrau hat seit März nur zweimal getankt!

Tod bzw. schwere Krankheit von mindestens zwei Bekannten.

Kein Gesang: Weder in der Kirche noch im Stadion.

März bis August: ohne ein einziges gezapftes Bier!

 

 

Wir erlebe ich Corona in den unterschiedlichen Lebensbereichen?

 

1.1 Wirtschaft – Beobachtungen

Diakonie ist ein Teil der Wirtschaft. Wenn sonst das Controlling aufschreckt, wenn die Altenheimbelegung von 98% auf 97% fällt oder ein Beschäftigter in der Werkstatt länger als 14 Tage krank ist, rutschte plötzlich alles weg: faktischer Belegungsstopp in Altenheime, Behindertenheime, Kinderheim, rund 1.800 Beschäftigte in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung blieben zu Hause. Anfänglich war nicht klar, ob Kostenträger weiterzahlen.

Wir werden lange Zeit Unsicherheit haben: Die Rettungsschirme für die Sozialwirtschaft werden nur nachrangig (subsidiär) und teils ungesteuert angewandt.[1]

Unsere Mitarbeitende erleben massive Flexibilisierungsanforderungen: Gruppenleitungen müssen entscheiden, wen sie vorsichtshalber in Quarantäne schicken, Fachanleiter aus den Werkstätten wechselten in Wohnheime, Mitarbeitende müssen adhoc mit Videokonferenzen zurechtkommt.

Wir würden gerne in dieser Krise „agiler“ werden – aber wie, wenn zwischenzeitlich fast tägliche neue Verordnungen zu lesen und umzusetzen waren?!

 

1.2 Wirtschaft – Einordung

Wer profitiert von dem 140 Milliarden schweren Rettungsschirm? Werden die Schulden eher investiv oder konsumtiv genutzt, also zum Nutzen oder Schaden zukünftiger Generationen?

Am Tag der Nachricht, dass ein Impfstoff gefunden ist, stieg der Aktienkurs der Pharmakonzerne, klar, aber auch die Werte der Luftfahrtbranche – so als ob es jetzt wieder los geht!- , während die Kurse von Bringedienste abstürzten. Mit Corona kann spekuliert werden…

Das Kurzarbeitergeld hat – auch in unserer Diakonie – dazu beigetragen, Arbeitsverhältnisse zu erhalten. Die Konjunktur konnte sich auch dadurch in den Sommermonaten erstaunlich schnell erholen, dennoch droht ein nachgelagerter Effekt gerade bei der Arbeitslosigkeit in 2021.[2]

Besonders für das Ruhrgebiet kommt ein entscheidend negativer Effekt hinzu: Durch den gigantischen staatlichen Rettungsschirm ist die anvisierte kommunalen Entschuldung in weite Ferne gerückt. Es nützt strukturschwachen Kommunen wenig, wenn sie mehr der – eben nicht üppigen – Gewerbesteuer behalten und von Sozialkosten entlastet werden (so der Rettungsschirm-Mechanismus). Es müsste vielmehr der Teufelskreis durchbrochen werden, dass überschuldete Kommunen Lebensqualität, Wohlstand und Bevölkerungsgruppen verlieren, weil sie nicht ausreichend in die kommunale Daseinsvorsorge investieren können.[3] Das wird nicht mehr realisierbar sein!

 

1.3 Wirtschaft – und Kirche?

Die wirtschaftlichen Konsequenzen für die Kirche sind derzeit noch erstaunlich gering. Zum einen wirkt sich die kirchensteuerfreie Kurzarbeit erst auf das Kirchensteueraufkommen 2021 aus. Zum anderen arbeiten wohl viele Kirchenglieder oberhalb der von der Kurzarbeit betroffenen Arbeitsbevölkerung und waren nicht betroffen. Viel entscheidender wird sein, inwieweit sich der Relevanz- und Imageverlust der Kirche – auch in der Krise – beschleunigt auf höhere Austrittszahlen auswirkt.

 

  • Soziale Lage: Beobachtungen

Natürlich waren auch wir stolz über den Applaus für die Pflege – noch nicht einmal, weil die Pflegekräfte grundsätzlich mehr geleistet hätten als sonst, sondern wegen der gesellschaftlichen Anerkennung.

Corona hat ein Dilemma offengelegt: Selten ist in so kurzer Zeit wie in dieser Großen Koalition so viel für die Pflege angestoßen worden[4]– und trotzdem laufen wir unabhängig von Corona auf einen Kollaps des Systems zu. Man muss nur den demographischen Wandel auf Mitarbeitenden- wie Patientenseite betrachten. Entsprechend ist das Problem der Intensivstationen nicht zu wenig Betten, sondern zu wenig Pflegekräfte!

Das Virus hat das Risiko eines Effizienz getrimmtes Gesundheitssystem hingewiesen, das möglichst wenig Vorhaltekapazitäten in Kliniken vorsieht und immer stärker von allgemeiner Daseinsvorsorge auf die Behandlungsmöglichkeit des Einzelnen fokussiert ist – selbst wenn es weltweit zu den besten gehört.

Wir haben als Träger von Alten- und Behindertenwohnheimen schnell gemerkt, wie unsere Klient*innen in besonderer Weise in ihren Freiheitsrechten beschnitten waren.

Vor allem bei den Menschen mit Behinderung sind massive Rückschritte – hinter das BTHG – hinsichtlich ihrer Teilhaberechte und Teilhabechancen zu verzeichnen: Die Werkstätten wurden geschlossen, während die Industrie „offen“ blieb. Alle Behinderte wurden hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Hygienemaßnahmen einzuhalten, über einen Kamm geschert.

Wie haben uns als Diakonie in den Sommermonaten massiv für anlasslose Testungen eingesetzt, als Urlaubsrückkehrer, Fußballprofis, Lehrerinnen und Erzieher präventiv getestet wurden, Pflegekräfte aber nicht.

Wir haben erlebt, wie wichtig es war, dass unsere Beratungsangebote erreichbar blieben: Substituierende Suchtkranke konnten nicht auf Begleitung verzichten. Pathologische Spielsucht, in der wir beraten, hat corona-bedingt massiv zugenommen. Unsere Schuldnerberatungen merken: Die Verschuldung von Rentner*innen nimmt massiv zu[5].

Wir haben Solidarität und eine enorme Spendenbereitschaft erlebt: Die Hertener Bevölkerung spendete Lebensmittel für Wohnungslosen, denen es schlagartig am Nötigsten fehlte.

 

2.2 Soziale Lage – Einordnung

Soziale Zerklüftungen verstärkten sich bzw. werden immer deutlicher sichtbar (z.B. Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisse von Schlachthelfern und Spagelstecherinnen, Existenzsorgen von Soloselbstständigen („von der Hand in den Mund“), prekäre Wohnverhältnissen von Familien.[6] Werden wir später mal von einer in ihrer Jugend beeinträchtigten Corona-Generation sprechen?

 

2.3 Soziale Lagen – und Kirche?

Es ist bei uns nicht gelungen, Kirchengemeinden und Diakonie aufeinander zu beziehen, obwohl diakonische Dienste im KK Recklinghausen oft direkt in Gemeindehäusern angesiedelt sind. Die Gemeindehäuser waren schnell zu. Vereinzelnd gab es aber sehr wohl organisierte aufsuchende Nachbarschaftshilfe aus den Kirchengemeinden heraus, die wiederum nicht die diakonische Struktur erreichte.

 

3.1 Bildung/Jugend: Beobachtungen

Mit Schul- und Kindergartenschließung musste unsere Diakonie die Frühförderung, Familienbildungsstätte und Familienunterstützenden Dienst schließen.

Die Ambulante Jugendhilfe verlor zwar nicht den Kontakt zu den Familien, oft aber zu den im Homeoffice schwer erreichbaren Jugendamtsmitarbeitenden.

Kinder und Jugendliche hatten keine öffentlichen Orte mehr (Kitas, Schulen), wo ihre Hilfebedarfe hätten auffallen können.

Ähnlich erging es unseren Frauenhäusern, die freie Plätze hatten, weil Frauen nicht den Absprung wagten. Psychische Probleme waren häufiger anzutreffen als Gewalterfahrungen.

 

3.2 Bildung/Jugend: Einordnung

Es ist kaum aufholbar, wenn entwicklungsverzögerte Kinder ein halbes Jahr keine Frühförderung erhalten. Insofern kann man fragen, inwieweit die Schließung von Bildungseinrichtungen auch über die erste Öffnungsphase des Lockdown hinaus unverhältnismäßig war. Besonders Kindern wurden, ohne dass sie sich wehren konnten, Freiheits- und Entfaltungsrechten vorenthalten, wie die beiden Ethiker Matthias Braun und Peter Dabrock Mitte April monierten.[7] Auch später wurde die KiTa-Öffnung nicht bildungstheoretisch vom Recht des Kindes her diskutiert, sondern eher von der Notwendigkeit der Eltern (oder der Väter), wieder arbeiten gehen zu können.

Im Schulsystem beobachte ich eine unglaubliche Statik. Während Schulen in Nachbarländern die Klassen schon im März teilten – Hälfte präsent, Hälfte digital von zu Hause – , ist bei uns der „Solinger Weg“ unerwünscht. Hybride Unterrichtsformen zu entwickeln, ist zu oft abhängig vom persönlichen Engagement von Lehrer*innen und Schulleitungen. Natürlich reicht es nicht, Schüler*innen mit Hardware auszustatten, wenn IT-Systeme und Didaktik fehlen.

 

3.3 Bildung/Jugend – und Kirche?

Was wird aus der klassische Jugend- und Konfirmandenarbeit? Fallen wir in Frontalunterricht zurück? Ist die Konfi-App der EKD passgenau? – Gemeinden, die bereits interprofessionelle Teams von Pfarrer*innen und Gemeindepädagog*innen gebildet haben, waren in meiner Wahrnehmung deutlich flexibler aufgestellt.

 

4.1 Seelsorge/Seelische Lage: Beobachtungen

Die faktische Schließung der Altenheime war für mich mit Blick auf die seelische Befasstheit der Bewohner*innen einschneidend: Die Angst vor Infektionsgeschehen (mit tödlichem Ausgang wie in Würzburg, Wolfsburg oder Gladbeck) war berechtigterweise groß – bei Trägern wie beim Gesetzgeber. Aber inzwischen ist klar, dass Freiheitsrechte im verfassungswidrigen Sinne entzogen wurden.

Die fachliche die Spannung zwischen Care (Schutz, Fürsorge) und Autonomie war in den gesetzlichen Spielräumen kaum austarierbar. Erste Angehörigen-Kontakte erinnerten an Gefängnis-Besuche.

Das Pflegepersonal hat notgedrungen – bewusst oder unbewusst – am kirchlichen Seelsorgeauftrag mitgewirkt: Sie haben auf Einsamkeit, zunehmende Lebensmüdigkeit und Ängste eingewirkt. – Wir haben Menschen, die noch eine kurze Lebensspanne haben, soziale Beziehungen und Kontakte vorenthalten müssen.[8]

Während die Kirchen in NRW bei Gottesdiensten ihre Eigenständigkeit untermauern konnten, gab es im 1. Lockdown keine ausdrücklichen Zugangsrechte für Seelsorger*innen. Ein großes Dilemma gerade für kirchliche Altenheimträger, v.a. aber für Bewohner*innen und Angehörige.[9]

 

4.2 Seelsorge/Seelische Lage: Einordnung

Die Lage hat sich um 180 Grad gedreht: Ging es anfänglich nur um Gewährleistung der Pflege und das Heraushalten des Virus, seht nun der Teilhabegedanke obenan. Der Zugang von Seelsorger*innen ist ausdrücklich geregelt.[10]

Mit dem Fokus auf Teilhabe und Selbstbestimmung sind m.E. auch zwei leidige Debatten erschlagen: einmal alle utilitaristisch anmutenden Eingebungen (wie die des Grünen-Politiker Boris Palmer), dass man Menschen nicht retten müsse, die in einem halben Jahr so wie so tot wären. Darum geht es eben nicht! – Und zum anderen um die Klarstellung, dass man keine Pflegeheime zusperrt, nur weil Jugendliche Party machen wollen.[11] Nach dem Würdebegriff des Grundgesetzes kann eben nicht das menschliche Leben oder die Freiheit verschiedener Gruppen gegeneinander ausgespielt werden!

 

4.3 Seelsorge/Seelische Lage – und Kirche?

Seelsorge hat an Bedeutung gewonnen. Im Altenheimbereich haben Gemeindepfarrer*innen oft kreative Andachtsformen entwickelt (z.B. mit Posaunen im Garten), es gab im Lockdown bei uns – buchstäblich – Hintertüren, um Sterbende zu begleiten. Weil die EKvW keine pastoralen Dienste (Entsendungsdienste) mehr in Altenheim vorsieht, waren ehrenamtliche Strukturen besonders belastet bzw. besonders lange ausgesperrt.

Die psychischen Problemlagen, die durch Corona entstanden sind, sind jetzt schon immens: Angststörungen, Überforderung, existentielle Unsicherheit, Alltagsunsicherheit: Das unsichtbare Virus hat sich Macht verschafft!

Daher ist es gut, dass die Telefonseelsorge als ökumenisches Angebot so präsent ist mit ihrer Überörtlichkeit, ihrem niederschwelligen Zugang und der Anonymität (Gunhild Vestner kann berichten).

Hier ist zu fragen: Wo sind die Verbindungen zur parochial organisierten Seelsorge, wo sind jeweilige Grenzen gerade mit Blick auf die psychischen Erkrankungen?

 

5.1 Demokratie: Beobachtungen

Ich habe twitternde Bürgermeister im Netz getroffen, die Facebook-Sprechstunden abhielten, weil zwischenzeitlich ihre Termine ausfielen. – Das Infektionsschutzgesetz ist das einzige Bundesgesetz für eine Pandemie. – Kommunalwahlen sind ordnungsgemäß über die Bühne gegangen– so föderal die Politik, so vielfältig die Eindrücke!

 

5.2 Demokratie – Einordnung

Krise ist immer die Zeit der Exekutiven – aber wie lange ist Krise?! Und was ist, wenn die Krise lange ist?

Tatsächlich haben die Corona-Verordnungen ein Demokratie-Defizit. – Der Vize-Bundestagspräsident Thomas Oppermann hat noch kurz vor seinem Tod festgestellt: Nicht erst durch Corona, sondern schon seit Jahren kommen Gesetzesentwürfe fast ausnahmslos aus dem Kabinett oder den Ministerien (also aus der Exekutiven) – Wir haben es also mit einem grundsätzlichen Problem zu tun!

Für den Soziologen Andreas Reckwitz erfindet sich der Staat gerade neu: und zwar als „resilienter Staat“, der Versorge schafft gegen permanente Gefährdungen wie Pandemien, digitale Crashs, Terror, Hasskriminalität und Klimawandel: der Staat nicht mehr als Wohlfahrtsstaat oder Wettbewerbsstaat, sondern als Infrastrukturstaat, der basale öffentliche Güter sichert, z.B. Gesundheit.

Beunruhigend: Der „resiliente Staat“ kann liberal sein, aber auch autoritär ausgerichtet sein. Wir sehen weltweit diese verschiedenen Spielarten.

 

5.3 Demokratie – und Kirche?

Ich wünsche mir weiterhin eine Kirche, die sich der demokratischen Willensbildung und dem gesellschaftlichen Diskurs verpflichtet fühlt.

Ich träume in unseren kirchlichen Räumen von „Runden Tischen“, von Formaten öffentlicher Rede und Gegenrede Ort, überparteilich und sozialräumlich orientiert. Kirche kann das, weil sie selbst involviert ist: Was planen wir in Kindergärten? Was ist jetzt dran in der Familienbildung? Wo sind Hilfebedarfe unserer Alten, unserer Jugendlichen? Über welche ethischen Fragen – Zugang zu Schnelltests oder Impfungen – soll nicht nur der Deutsche Ethikrat debattieren, sondern wie kommen wir zu nachvollziehbaren Entscheidungen vor Ort? Wie lauten unsere Gebete für mehr Mut und Rücksichtnahme?

Es gibt wenige gesellschaftliche Instanzen wie die Kirchen, die gegen die Vereinheitlichungstendenzen der Meinungen in den Sozialen Medien Sprach- und Denkräume anbieten könnten, wo bewusst Widersprüchlichkeiten und Vagheiten diskutiert werden und fremde Sichtweisen auszuhalten wären.[12]

Wann ergreifen wir solche Initiativen?– Es ist nicht eine des Hygienekonzeptes, sondern inwieweit wir uns als öffentliche und verantwortliche Kirche sehen und einzubringen wagen.

 

6.1 Das große Ganze – meine Beobachtung

Zwei Sätze haben sich bei uns ausgeprägt:

  1. Satz: „In der Krise sind die Trägen noch träger und die Engagierten noch engagierter geworden.“

Rückzug und übermäßiger Einsatz – beides zusammen erst macht für mich die Krise aus. Es geht um Solidarität in ohnehin auseinanderdriftenden Bereichen, in der Diakonie etwa zwischen den Mitarbeitenden in den Verwaltung, die sich ins home office zurückziehen konnten, und denen in der Pflege, die faktisch durch körpernahe Tätigkeit täglich die eigene Gesundheit riskieren.

Es geht um den „Energiehaushalt“ ganzer Organisationen, gerade derjenigen, die von hoher intrinsischer Motivation leben: Diakonie und Kirche, Schule. Trägheit hier, hohe Energie dort kann kein längerer Zustand sein – zumal wenn Corona uns wieder auf die andere Mega-Themen zurückwirft, die keinen Aufschub erlauben: Klimaschutz, Multilateralismus, soziale Zerklüftung…

Zweiter Satz– kurz vor dem Sommer: „Was wir nicht jetzt wieder aufmachen, können wir gleich zulassen.“

In der Diakonie war uns schnell klar: Wenn wir vor Ort nicht möglichst schnell wieder persönlich aufsuchbar werden, werden wir schnell nicht mehr benötigt.

Corona wird gesamtgesellschaftlich massive Auswirkungen haben auf die Vielfalt und das flächendeckende Vorhandensein von Diensten und Gewerbe, Museen und öffentliche Einrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten und kulturellen Orten. Es werden auch kirchliche Orte einfach sterben, selbst wenn sie in der volkskirchlichen Planung noch vorgesehen sein sollten…

 

6.2 Das große Ganze – und die Kirche?

Der Medizin und der Naturwissenschaft, nicht der Kirche ist in dieser Krise die Führungsrolle zugeschrieben worden. Es kann kränkend sein, nicht mehr systemrelevant zu sein. Wolfgang Huber hat berechtigterweise eingewandt, dass Kirche eher existenzrelevant sein soll.

Dennoch stellt sich die Frage: Ist die Pandemie Lehrstück und Trigger für die Säkularisierung und Privatisierung von Religion in westlichen Gesellschaften (Ulrich Körtner)? Geht alles noch schneller?

Eine Antwort geben darauf geben nicht die zur gleichen Zeit veröffentlichten „11 Leitsätze der EKD“. Sie sind so kontextlos und allgemein, dass sie von jedem Standpunkt aus interpretierbar sind. Verräterisch waren die empörten Aufschreie derer, die die Vorrangstellung der Parochie verteidigen, ohne sich die Mühe zu machen, einmal deren Leistungsfähigkeit zu hinterfragen. Die vereinsmäßig organisierte Gemeindehaus-Kirche erreicht wenige (und immer weniger) Menschen an immer weniger Orten. Entsprechend war genau diese Gestalt von Kirche in dem Moment überfordert, als der mediale Fokus in der Krise auf den Kirchturm fiel: Wo ist eigentlich die Kirche in der Krise? Haben wir uns mehr mit dem Infektionsschutzgesetz als mit der Bibel beschäftigt (Heribert Prantl)? – Diese Frage wäre aber genauso relevant für Zeiten jenseits der Pandemie und insofern in ihrer Zuspitzung auch ein stückweit ungerecht.

Ich habe für öffentliche kirchliche Orte geworben, also für eine Kirche vor Ort, die sich aber nicht in Gottesdienst und Gemeindehaus-Leben erschöpft, sondern die sich sozialräumlich öffnet.

Welche Nähe haben wir zu den Menschen, wenn wir die diakonischen Dienste mitdenken!

Leitende Geistliche hätten auf den Vorwurf, dass die Kirche nicht bei den Menschen gewesen wäre, Diakonie und Kirche zusammen denken müssen, so wie der Zusammenhang bei Sonntagsreden stets beschworen wird: Kirche aus „Kirche und Diakonie“ war 24/7 wir bei den Menschen![13]

Zukünftig stellt sich m.E. die Herausforderung, ob wir die vier altkirchlichen Kennzeichen der Kirche – Zeugnis, Liturgie, Diakonie und Gemeinschaft – auch digital oder, noch besser, hybrid entwickeln. Bei digitalen Gottesdiensten ist zuletzt viel gelungen!

 

Schlussbemerkung

Ich kreise im Nahbereich, wobei Kirche in der Pandemie weltweit zu denken ist. Ich möchte den Kontakt zu Freunden in unserer Partnerkirche am Rio de la Plata nicht missen, deren Lage weitaus drastischer ist …

Den weiten Blick hat der Philosoph Markus Gabriel bei der Eröffnung mit Litcologne im September gewagt:

„Zum ersten Mal tut die Menschheit als ganze dasselbe und bekämpft mit einer Zeitverzögerung von eins, zwei Monaten weltweit die gleiche Gefahr – eine bisher nie dagewesene Innovation durch die Wissensgesellschaft. Gleichzeitig trifft diese Wissensgesellschaft auf die schärfste epistemische [erkenntnistheoretische] Krise, die die Menschheit jemals hatten, nämlich den Zweifel daran, dass es Wahrheit und Wirklichkeit gibt.“

Dass Wahrheit und Wirklichkeit an prominenter Stelle geleugnet werden, sagte Gabriel vor der US-Wahl. Wie groß könnte jetzt neu die Chance sein, diese Menschheitskrise gemeinsam zu bewältigen, Wissen (etwa bei der Impfstoff-Suche) zu teilen und im Umgang mit zukünftigen Krisenherden voneinander zu lernen?

Ich schließe daher mit der Hoffnung, dass wir uns derzeit alle die Frage stellen, was wir nun beim Lockdown light anders, besser, machen als im Frühjahr. Ich möchte die Werkstätten für Menschen mit Behinderung nicht wieder zumachen und nicht mehr Altenheime abriegeln.

[1] Vgl. v.a. Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG).

[2] Die Unruhe im Arbeitsmarkt hat zugenommen: Im Oktober war die Zahl der Stellensuchenden um 550.000 höher als im Jahr zuvor. (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/arbeitslosigkeit-deutschland-corona-arbeitslose-1.5097811)

[3] Bereits heute beziffert das Deutsche Institut für Urbanistik die kommunale Investitionslücke mit 138 Milliarden Euro.

[4] 13.000 Pflegekräfte mehr übers Pflegepersonalstärkungsgesetz, Erhöhung des Pflegemindestlohns, die Abschaffung des Schulgeldes, die generalistische Ausbildung, Einführung von Personaluntergrenzen, Herauslösung der Pflege aus den Fallkosten, Einfrieren des Pflege-Eigenanteils u.v.m.

[5] Schuldenatlas 2020 von Creditreform (11-2020): Seit 2013: Vervierfachung der überschuldeten Personen über 70 Jahre. Letzte 12 Monate (d.h. auch corona-bedingt): +23% bei den Ü70-Jährigen, +13% bei 60-69-Jährigen. Wenn sich allgemein die Zahl der verschuldeten Personen um 69.000 auf 6,85 Millionen verringerte, erwartet der Schuldenatlas ebenfalls einen nachgelagerten Effekt in 2021.

[6] Report Mainz-Bericht aus Kaiserslautern vom 10.11.2020.

[7] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-krise-und-familien-kinder-haben-ein-recht-auf-gegenwart-a-6864de34-e0fc-47d6-843d-beb3174654f9

[8] Hier passt der nachdenkliche Satz von Jens Spahn aus dem April: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“

[9] Besonders negativ dürfte sich ausgewirkt haben, dass durch die flächendeckende Streichung von Entsendungsdienst-Aufträgen oft keine hauptamtliche pastorale Seelsorge mehr vorhanden ist, auf deren Seelsorgeprivileg die Kirche sich hätte berufen können.

[10] Vergleicht man den jeweils ersten Satz der Corona-AV aus April und November, ist ein fundamentales Umdenken erkennbar:

„Die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen [..] muss auch während einer epidemischen Lage verlässlich […] gewährleistet sein.“ (Corona-AV NRW vom 29.4.20)

„Bewohnerinnen und Bewohner, die in stationären Pflegeeinrichtungen leben, haben das Recht auf Teilhabe und soziale Kontakte.“ (Corona-AV Pflege und Besuche vom 4.11.2020)

[11] Christoph Seils, publikform 21/2020, 10.

[12] . Es geht um das, was die Psychologin Else Frenkel-Brunswik schon 1949 mit dem sperrigen Namen „Ambiguitätstoleranz“ versah.

[13] Und es war auch wohltuend, dass die Evangelische Kirche eben keine Hirtenworte von oben kennt, sondern das Priestertum aller Glaubenden vor Ort hat – mit Kreativität und Energie, aber auch einer Begrenztheit, die anscheinend nicht allen Kritikern bewusst war. (Springhart, zz 8-2020, ff.).