„Wenn das hier nicht schnell anders wird, gehe ich kaputt!“ So die 4–jährige Nichte einer Freundin in der Corona-Krise.
Predigt – Erlöserkirche Haltern Diakoniesonntag (10. So. n. Tr.): 16.8-2020 / Kinder und Familien in der Corona-Krise
Ja, dieses Virus hat etwas Existenziellesund geht ins Mark. Ratlos und aufgeschreckt lässt mich so ein Statement eines Kindes zurück.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass die Isolation allein bei Älteren ein Problem wäre: Kaum einer Gruppe haben wir so viele Rechte vorenthalten wie den Kindern, die neben nicht zu Objekten von Schutz, Fürsorge und Betreuung gemacht werden dürfen, sondern Persönlichkeiten mit eigenen Rechten sind. Nicht alle Kinder können ihre Sicht so auf den Punkt bringen wie diese 4-jährige: „Wenn das hier nicht schnell anders wird, gehe ich kaputt!“
Nötiger Schutz und Kinderrechte wie Gemeinschaft und Bildung stehen heftig in Spannung. Gut, dass die Kitas wieder auf sind und die Schulen in dieser Woche begonnen haben, notfalls auch mit Maske: Denn klar ist auch – und das macht die Krise, je länger sie dauert, umso schwieriger -, dass es weiterhin um den Schutz vor einem gefährlichen Virus geht.
II.
Christinnen und Christen stehen mit ihremGottvertrauen in dieser Zeit, mit einer Haltung und einer Parteilichkeit für diejenigen, die unsere besondere Unterstützung brauchen. Was wir meiner Ansicht aber nicht aus dem Glauben ableiten können: Fertige Rezepte und eine allzu klare Weltsicht! Vielmehr haben wir uns immer neu heranzutasten: Was trägt uns durch eine solche Krise hindurch? Welchen Zuspruch sind wir als Kirche den Menschen schuldig? Was würde Jesus dazu sagen?
Letztlich versucht sich daran schon Paulus daran, als er nach Rom schreibtund der jungen Gemeinde die ganz großen Themen auftischt: Warum jeder allein auf Gottes Gnade angewiesen ist. Warum die Taufe heil macht. Und dann in Kapitel 12: Wie die junge Gemeinde miteinander leben soll. Da ist keine bürgerliche Familie gemeint; da werden keine neuzeitlichen Kinderrechteformuliert. Aber drei Ratschläge des Paulus möchte ich auf heute übertragen:
Überfordert euch nicht!
Überfordert euch nicht bei dem, wofür ihr euch einsetzt, achtet auf eure Grenzen bei dem, was ihr vorhabt. Denn Gott hat jedem und jeder ein bestimmtes Maß an Kraft zugeteilt. (Röm 12,3)
Wir haben in den letzten Monaten erlebt, dass Familien überfordert waren: stay at home hieß oft: Home-Office und Homeschooling. Großeltern fielen aus. Alle öffentlichen Unterstützungssysteme – Kindergärten, Schulen, dieKirchengemeinden – schlossen.
Unsere diakonischen Dienste haben festgestellt: Corona wirkt wie ein Brennglas: Wo Familien vorher schon Schwierigkeiten hatten, haben sich diese durch Corona besonders verstärkt: Wenn die Wohnung klein ist, wenn Spielplätze und Schwimmbäder geschlossen waren, Freunde nicht besucht und der Sportverein nicht aufgesucht werden konnte – dann kamen alle schnell an ihre Belastungsgrenzen. Ganz zu schweigen davon, dass auch die Frühförderung schließen musste und Kinder kostenbare Zeit für Unterstützung und Therapien verloren haben.
Die Öffentlichkeit hat oft die wirklichen Geldsorgen von Familien nicht im Blick: Es war für viele Familien auch in Haltern eine Not, als die Tafel schloss oder die Schulspeisung nicht mehr finanziert war. Es gibt unterschiedliche Bedingungen für homeschooling: Oft fehlt schlicht ein Drucker, um Hausaufgaben auszudrucken, oder ein geeigneter Schreibtisch, wo man sie machen könnte. In armen Familien sitzen die Kinder, die am wenigsten Schulstoff zu Hause mitbekommen haben und nun die größten Lücken haben!
Eltern, vor allem Mütter, haben nicht mehr alles unter einen Hut bekommen: Kinderbetreuung, Schulunterricht zu Hause, Beruf, womöglich noch Pflege älterer Familienmitglieder…
Nehmt eure Grenzen wahr! Überfordert euch nicht! – Damit dies nicht zynisch wird, bringt Paulus einen zweiten Ratschlag, der zwingend dazugehört:
Bleibt solidarisch
Liebt einander! Achtet einander! Teilt mit denen, die in Not sind! Freut euch mit den Glücklichen, weint aber genauso mit den Traurigen!
Corona darf nicht der neue Spaltpilz unserer Gesellschaft werden.
Die Mitarbeitenden der Diakonie haben in den letzten Monaten Familie begleitet und „angestupst“, eigene Kräfte und Fähigkeiten wiederzuentdecken: raus ins Grüne mit dem Fahrrad oder der Wanderkarte. Selber Gemüse anpflanzen. Die gemeinsame Zeit zum Spielen, ja auch schlicht zum Reden, zu nutzen.
Aber weil es beileibe nicht nur rosig war, oft ein Groll auf Eltern entstand oder auch eine richtige Wut auf die Kinder, hieß es: Streitschlichten, Fahrpläne aufsetzen fürs Familienleben, finanzielle Nöte ordnen. Da haben wir helfen können!
Ich bin dennoch der Überzeugung, dass es neben der Selbstverantwortlichkeit der Familie und der strukturellen Hilfe z.B. durch die Diakonie noch ein Drittes braucht: einen Konsens, dass der Zusammenhalt in unsere Gesellschaft durch Corona neu gesichert werden muss!Geld ist genug locker gemacht worden – wo kommst es an? Wenn das Virus die soziale Ungleichheit verstärkt, müssen die immensen Geldflüsse so gesteuert werden, dass die Benachteiligten mindestens den gleich großen Vorteil daran haben. Sonst erodiert weiter die Chancengleichheit vieler Menschen und die Schere der Ungleichheit ginge immer weiter auf.
Oder mit Paulus gesagt: Wenn von dem einen Körper ein Körperteil leidet, dann funktioniert der ganze Körper nicht mehr.
Es klingt auch wie eine kirchliche und diakonische Aufgabe, es ist aber auch die Aufgabe eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates, die uns alle betrifft: Haltet die Menschen zusammen! Sorgt dafür, dass die einen die anderen nicht (noch mehr!) aus dem Blick verlieren! Hört überhaupt dieSchicksalen, so wie vorhin mit den kurzen Briefen!
Ohne Zusammenhalt wäre der erste Ratschlag des Paulus, dass die Menschen sich nicht überfordern, geradezu zynisch!
Dritter Ratschlag:
Bleibt in der Hoffnung!
Oder wörtlich: Freut euch, weil ihr Hoffnung habt!
Paulus schreibt vom Fundament.
Unser Fundament, unser ganzen Lebensgefühl kann durch Corona grundsätzlich erschüttert sein. Angst kann lähmen. Hysterien entstehen, Verschwörungstheorien und -praktiken. Tatsächlich sind Menschen am Virus gestorben, so dass unser Glaube ans Guten geraubt sein könnte.
Das „Gute“ kommt begrifflich gleich sechsmal in dem Text vor: Gott will das Gute. Werft euch dem Guten in die Arme.
Das Gute ist der Zielpunkt der Hoffnung. Es gibt Hoffnung, weil ihr – so schreibt es Paulus vorher – durch die Taufe: Gegen alle Anfeindungen im Leben sind wir untrennbar mit Christus verbunden, selbst durch den Tod hindurch. Ihr hängt, ihr haftet quasi an der Hoffnung. Christus hat sich an uns gebunden und lässt uns nicht mehr los.
Heinrich Albertz, Theologie und lange Jahre Berlins Regierender Bürgermeister, hat einmal über das Hoffen gesagt:
„Glaube ist immer, etwas mehr zu hoffen, als die Umstände es zulassen.“
Das passt für mich in diese Zeit: Uns ist die Verletzbarkeit unseres Lebens, unserer Zivilisation vor Augen geführt, und dennoch geht unsere Hoffnung darüber hinaus. Wir sehen die Belastungsgrenzen von Familien, wir hören einen Satz der Vierjährigen „Wenn das hier nicht schnell anders wird, gehe ich kaputt!“, der uns anspornt, nachzudenken, wie sich Leben weiten kann. Uns allen steht mehr Fantasie zu Gesicht, wie unsere Kinder lernen können, mehr Kreativität, wie wir einander unterstützen können!
Wir sehen mit den Augen unserer Hoffnung, welche Kräfte Familien und Kindern zugewachsen ist.
Wir wagen es neu, Bilder zu formulieren, wie es sein wird, mit der Krise, nach der Krise.
Wenn der Chef der Deutschen Fußballliga formuliert, dass „volle Stadien das ikonische Bild zur Überwindung der Krise“ wären, sei ihm hier gelassen widersprochen: Nicht volle Stadien machen wirklich Hoffnung, sondern Geschichten rund um Kinder und Familien, von denen wir gleich vor den Fürbitten hören, und die Bilder aus dem nächsten Lied:
Ein Haus, das uns beschützt.
Kinder, die sich im Haus versammeln
Die fröhlich tanzen, wo keiner ihre Kreise stört.
Alte, bewirtet unter ihrem Baum, der Schatten wirft.
Eben weil uns der Himmel blüht und es unser Glaube ist, etwas mehr zu hoffen, als die Umstände es zulassen.
III.
Ich nehme den Paulus mit: sich nicht zu überfordern, solidarisch zu sein, in der Hoffnung zu bleiben – und mit diesen Ratschlägen nehme ich das vierjährige Mädchen an die Hand und mache mich mitten in der Krise mit ihm auf den Weg zu machen: dass schnell etwas anders wirdund hier keiner kaputt geht!
Amen.