Lieber Arm ab als arm dran (Andacht Führungskräftetage 2016)

Auf dem Konfirmationsfoto steht er mit herunterhängender Armprothese. Über eine Jugendfreizeit schreibt Rainer Schmidt, wie er sich geniert, mit seiner Beinprothese trotz brüllender Hitze mit ins Schwimmbad zu gehen. Andacht Führungskräftetage 2016

Denn er wächst ohne Arme auf, nur mit einem Daumen über dem fehlenden Ellbogengelenk, außerdem mit einem verkürzten Bein. Er schreibt:

„Damals habe ich oft gewünscht, ich sei schön und stark wie die anderen Jungs. Ich empfand mich als defizitär. Immer wieder stellte ich mir die Frage: Warum bin ausgerechnet ich behindert? Warum ist mein Körper anders als der meines Bruders? Es war zugleich der Anfang meines bewussten Glaubens. Während in meiner Kindheit meine Behinderung noch gut mit dem Vertrauen an den liebenden Gott zusammenpasste, so spürte ich jetzt die Spannung. Warum lässt es Gott zu (oder will er es sogar?), dass Kinder ohne Arme geboren werden?

An ein Lied von Jürgen Werth (‚Vergiss es nie‘) erinnere ich mich genau. Im Refrain heißt es: ‚Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur… Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu.‘

Ein schönes Lied fand ich, aber ich, ein Gedanke Gottes? Da hat er wohl Kopfschmerzen gehabt, als er mich erdacht hat.

Meine persönliche Frage nach dem ‚Warum‘ wurde eine Glaubensfrage: hat Gott tatsächlich die Schöpfung fehlerhaft gemacht? Kann Gott mich ‚heilen‘? Will Gott mich überhaupt von meiner Behinderung befreien, oder bin ich so, wie ich bin, von Gott gewollt und also ‚gut‘?“

Soweit aus dem Buch von Rainer Schmidt.

Er kommt schon als Jugendlicher zum Schluss: Seine Behinderung widerlegt nicht seinen Glauben an einen gütigen und liebenden Gott. Sondern er kann nachbuchstabieren, was wir gerade auch im Psalm 139 gesprochen haben: „Ich danke dir Gott, dass ich wunderbar gemacht bin.“

Arm ab, aber nicht arm dran sein – das ist sein Lebensmotto geworden; entsprechend der Buchtitel: „Lieber Arm ab, als arm dran“.

Er hat sogar in Gott eine Kraft gefunden, mit seiner Behinderung gut umzugehen: Denn vor Gott hat Behinderung nichts mit einem Unglück zu tun. Die Bibel ist voll mit Geschichten von Menschen, die arm dran sind, obwohl sie gesund sind (z.B. die Einsamkeit des Zöllners Zachäus, der arm dran ist, sogar als materiell Reicher). Und andersherum gibt es Menschen in der Bibel, die behindert sind, aber voll von Zuversicht und Gottvertrauen, wie fast alle Menschen, die in den Wundergeschichten auf Jesus zugehen. Überwiegend geht es nicht zuerst zum ihre Heilung, sondern um ihren Glauben, den sie vorher schon zeigen.

In der Bibel geht es um das „In-Ordnung-sein-mit-Gott“, wie es einmal der Vollmarsteiner Theologe Ulrich Bach formuliert hat, der selber auf einen Rollstuhl angewiesen war.

Rainer Schmidt kommt in seinem Buch zu dem Schluss, dass die Unterscheidung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten unangemessen, ja sogar schädlich ist – wohlwissend, dass es schwere Behinderungen als seine gibt, wohlwissend auch, dass er in seinem Leben schmerzhaft erfahren hat, wie sehr wohl in „behindert = eingeschränkt“ und „behindert = du gehörst nicht dazu“ unterschieden wird.

Doch diese Unterscheidung hält er für unangemessen, ja sogar für schädlich: Denn – und nun wird es eine Woche, bevor das Reformationsjubiläumsjahr beginnt – richtig evangelisch und reformatorisch: Alle Menschen haben Defizite („jeder Mensch ist sündig vor Gott“, nicht im moralischen Sinne, sondern hinsichtlich seinem „In-Ordnung/Nicht-in-Ordnung sein mit Gott, Röm3). Und gleichzeitig haben alle Menschen irgendwelche Fähigkeiten (besondere Begabungen, Charismen, wie Paulus es mit dem griechischen Wort nannte).

Um’s konkret zu machen: Rainer Schmidt hat die Gabe, mit seiner Behinderung besonders selbstbewusst umzugehen – dazu hat die besagte Jugendfreizeit beigetragen, als er sich doch im Schwimmbad aus der langen Hose und ins Wasser wagte und ein Mädchen ihm abends attestierte: „Dass Du Dich das traust, hätte ich nicht gedacht. Und nett bist du auch noch!“.

Und: Rainer Schmidt ist auf die irre Idee gekommen, als Armloser unbedingt Tischtennis spielen zu lernen. Auch dazu hat er eine Gabe:

Als ich ihn das erste Mal auf einem Kirchentag traf, war er dekoriert mit mehrfacher Welt- und Europameister im Tischtennis-Einzel und in der Mannschaft für Menschen mit Behinderung; er hatte Goldmedaillen bei den Paralympics gewonnen in Barcelona (1992) und Athen (2004).

Damals erzählte er die Geschichte, wie er zum Tischtennis fand – und es ist irgendwie war das für mich 2001 die erste erlebte Geschichte von Inklusion und Teilhabe, wie wir sie heute denken und auch auf dieser Tagung zum Thema haben, auch eine Geschichte des inzwischen studierten evangelischen Theologen, die ganz im Lichte des Jesus von Nazareth scheint, der in der Heilungsgeschichte des blinden Bartimäus als erstes und völlig überraschend den Bartimäus fragt: „Was willst du, das ich dir tun soll?“

Also, Rainer Schmidts Geschichte vom Tischtennisspielen: Im Familienurlaub gab es nichts außer einer Tischtennisplatte, wo Rainer mit seinem Bruder einfach ausprobierte, einen Schläger mit beiden Armen festhaltend den Ball zu treffen – ohne Erfolg. Er gab auf. Einige Tage später stand er um die Tischtennisplatte herum und ein anderer Urlaubsgast fragte schlicht, ob er auch mitspielen wollte.

„Ich habe es ausprobiert: Ich kann den Schläger nicht festhalten.“ – “Mal gucken“, sagte der Urlauber und polsterte mit Schaumstoff den Schlägerknauf und band ihn Rainer um den Arm. Es wurde so lange getüftelt, bis es ging.

Nach Hause zurückgekehrt machte sich Rainer Schmidt auf in den örtlichen Tischtennisverein – mit einigem Bammel: Wie soll einer ohne Arme Tischtennisspiele und die anderen von dieser Idee denken?

Und nun der Trainer, der sich die Schlägerkonstruktion aus dem Urlaub ansah und dann die Worte sagt, die für Rainer Schmidt allesentscheidend sind und für mich viel mit der Botschaft Jesu dem reformatorischen Menschenbild und dann auch der UN-Menschenrechtskonvention zu tun, die es damals noch gar nicht gab. Der Trainer sagt: „Ich weiß nicht, ob ich dir viel beibringen kann, aber vielleicht findest du ja selbst am besten raus, wie du spielen kannst.“

Am Ende des Buches formuliert Rainer Schmidt einen Traum, daraus zwei Verse:

„Ich träume eine Welt, in der alle wissen, dass Menschen zugleich begrenzt und begabt sind. Dann wäre niemand unnormal, weil keiner normal wäre.

Ich träume eine Welt, in der Menschen lernen, ihre verrückbaren Grenzen zu erweitern, ihre unverrückbaren Grenzen zu akzeptieren und beides voneinander zu unterscheiden. Da würden die Menschen dankbar sein für die vielen Möglichkeiten des Lebens. Und sie würden die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren nicht mehr spüren.“ Amen.