In einem Boot (Predigt Diakoniesonntag 2015 zu Mt 8,23-27)

Das ist alles andere als lustig: Da steigen Menschen in ein Boot, und als sie auf dem Wasser sind, erhebt sich ein gewaltiger Sturm. Das Boot „wird von den Wellen zu gedeckt“, also: es droht zu kentern.

Predigt – Diakoniesonntag 2015, Marl

Zu Mt 8,23-27

 

Die Bilder und die Geschichten von Menschen, die in ein Boot steigen, sind uns allgegenwärtig. Seit Jahresbeginn haben mehr als 100.000 Menschen versucht, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Das sind mehr, als in dieser Stadt wohnen. 2.500 sind ertrunken oder erstickt, jedenfalls so die offiziellen Angaben. Es werden viel mehr sein.

 

Die biblische Geschichte von der Sturmstillung hat jede Form von Harmlosigkeit eingebüßt, wenn sie je eine hatte. Sie ist mitten in unserer Lebenswelt angekommen, und wir können es in diesen Wochen und Monaten besonders nachspüren: Wie hilflos muss man sein, wenn man ohne doppelten Boden, unter Schutz, auch ohne Hab und Gut unterwegs ist durch eine lebensgefährliche Situation.

 

„4.000 Flüchtlinge in einer Nacht gerettet“, steht in der Zeitung. Immer mal wieder. Ungreifbar abstrakt. Und dann geht in dieser Woche ein Bild um die Welt vom dreijährigen Aylan Kurdi, der es nicht geschafft hat und dessen Körper leblos am türkischen Strand gefunden wurde. Geflohen vor dem „Islamischen Staat“ aus Syrien. Rettung oder Tod war die Aussicht der Familie, als sie in das Boot nach Griechenland stieg. Es überlebte einzig der Vater: Aylan, sein Bruder und seine Mutter ertranken.

 

Wir sind mitten in einer Geschichte, in der Geschichte, in der man nur mit den Jüngern rufen kann: „Herr, hilf!“ Dieses Unrecht und Leid schreit zum Himmel!

Oder wo man mit denen rufen möchte, deren Stimme wir nie hörten und deren Namen wir nie erfahren: „Herr, hilf, wir kommen um!“

 

II.

Heute am Diakoniesonntag in Marl haben wir an unser Boot die Hilfeangebote, die Haltungen und Botschaften aus unserer gemeindlichen und verfassten Diakonie befestigt. Aber ich gestehe mir ein: Ich bin konfrontiert damit, dass schon seit so langer Zeit – und auch absehbar in der Zukunft – Menschen in Not geraten und ihr Leben lassen, weil sie in ein Boot steigen.

 

Und dennoch passt ja beides zusammen: Wenn wir uns hier vor Ort um die Flüchtlinge kümmern, die ihre Flucht überlebt haben, dann tun wir einen diakonischen Dienst, der in der Regel mit dem nackten Überleben zu tun hat. Viele könnten eine solche Geschichte erzählen wie der Evangelist Matthäus, weil sie glücklich überlebt haben.

 

Auch die anderen Symbole sind an diesem Boot mehr als passend: Schon bald werden die Flüchtlinge bei den klassischen Aufgabenfeldern anklopfen, bei der Jugendhilfe, wenn sie als unbegleitete Jugendliche gekommen sind. Vielleicht beim Heilpädagogischen Zentrum mit Kita, Frühförderung und dem Familien unterstützenden Dienst, denn es sind so viele Kinder und Familie da, die Hilfe brauchen. Zu den Sozialraumprojekten: Denn Flüchtlinge werden in Wohnungen ziehen und dann hoffentlich ein Teil unserer Quartiere werden. In der Diakonie unterscheiden wir nicht, ob Flüchtling oder Nicht-Flüchtling, sondern es zählt nur der Hilfebedarf.

 

III.

Und dennoch bricht das Bild vom Boot, an das wir unsere Hilfeangebote heute geheftet haben, und es fällt mir schwer mit den Bildern im Kopf einfach zu sagen: Wir sitzen alle in einem Boot. Das ist zu simpel, und entwertet das Lebensrisiko der Flüchtlinge: Ich bin in dieser Geschichte gerade nicht der Lebensgefährdete.

 

Aber wer bin ich dann in dieser Geschichte?

 

Ich kann mich ja auch nicht abwenden und sagen, ich sitze nicht mit im Boot, vor allem in dem Sinne, dass wir ja nicht davon freisprechen können, dass unsere Lebensweise mit dafür verantwortlich ist, dass Menschen aus Afrika zu uns fliehen. Oder dass wir uns als Europäer mitschuldig machen an Katastrophen auf hoher See, so wie wir Europa abschotten.

 

Wo also bin ich in dieser Geschichte?

 

Lesen wir im MtEv den Zusammenhang, dann ist die Geschichte von der Sturmstillung keine Wundergeschichte, sondern eine Nachfolgegeschichte:

 

18 Als aber Jesus die Menge um sich sah, befahl er, hinüber ans andre Ufer zu fahren.

19 Und es trat ein Schriftgelehrter herzu und sprach zu ihm: Meister, ich will dir folgen, wohin du gehst.

20 Jesus sagt zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.

21 Und ein anderer unter den Jüngern sprach zu ihm: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. 22 Aber Jesus spricht zu ihm: Folge du mir, und laß die Toten ihre Toten begraben!

 

Und dann steigt Jesus mit seinen Jünger ins Boot.

Es geht also darum, Jesus nachzufolgen – und Nachfolge hat hier mit dem Verlassen seiner Heimat zu tun, so wie Jesus auch keinen sicheren Heimathafen hat (nichts, wo er seinen Kopf hinlegen könnte). Es geht um große Eile und sofortige Konsequenz (nicht mal den Vater bestatten!) und damit um die Entscheidung und den Glauben, ob man Jesus zutraut, das eigene Leben komplett zu ändern.

 

Mit den Jüngern, die sich schon entschieden haben und Jesus augenscheinlich trauen, geht es dann auf den See.

 

Alles, was dann passiert, ist mit dem Blick auf ihren brüchigen (schiffsbrüchigen!) Glauben dann auch symbolisch aufgeladen:

 

  • eine Bootsfahrt als die Nachfolge auch durch Angst, Not und Gefahr („Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, EG 604,1)
  • Das Wasser als das Symbol des Schreckens und der Bedrängnis – und es schlägt sogar hinein ins Schiff
  • das Boot – vielleicht Sinnbild einer Gemeinde, aber wohl noch eher als Zeichen des Lebensweges
  • der schlafende Jesus als Hinweis, dass die Jünger ihn als abwesend wahrnehmen, so wie die nachösterliche Gemeinde des Evangelisten Matthäus sich darüber den Kopf zerbrochen haben dürfte, wie (und ob?) der auferstandene Christus noch anwesend ist.
  • Dass jemand dann den Wind bedrohen kann und Stille hervorrufen kann – das ist Symbol dafür, dass er als Gottessohn im Leben die Angst nehmen kann und darüber hinaus die Macht behält.

 

Und hier sehe ich mich in einer solchen Bootgeschichte: Ich sehe mich in die Nachfolge gerufen: durch die Taufe. Das teile ich hier sicher mit vielen, bei mir noch einmal konkreter gefasst durch einen kirchlichen Auftrag, in diesem Kirchenkreis Diakoniepfarrer zu sein.

 

Gleichzeitig sehe ich mich –ähnlich zu den Jünger – mit einer gewissen Furchtsamkeit und Ängstlichkeit, als ob ich mit Gott gar nicht rechnete, nicht davon ausgehen wollte, dass er da ist, nur weil man ihn nicht sieht oder vernehmbar hört. So ist es ja auch mit Jesus, der schläft, aber dennoch da ist.

 

Ich bin in der Sturmgeschichte nicht der Lebensgefährdete, eher der „Kleingläubige“ (Matthäus nennt so die Jünger).

„Nah ist und schwer zu fassen ist Gott.“ (Friedrich Hölderlich)

Tatsächlich ist es in der modernen Welt nicht leicht, auf seinen Lebenswegen von Gottes Gegenwart und Begleitung, ja auch von seiner Bewahrung auszugehen.

 

IV.

„Nah ist und schwer zu fassen ist Gott.“

Und bei Hölderlin geht es dann weiter:

„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“

 

Ich taste mich vorsichtig heran, wo eine biblische Bootsgeschichte mit den Lebensbedrohten auf den Meeren zusammenpasst und auch mit der wundersamen Erfahrung, dass Menschen ihren „Kleinglauben“ verwandelt bekommen in neuen Mut und Kraft.

 

„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“

Das ist doch genau die Erfahrung der letzten Wochen in unseren Städten, auch – wie ich mir das habe schildern lassen – für Marl, wo Menschen sich haben anrühren lassen vom Schicksal der Füchlinge, von der Gefahr, die diese erlebt und hinter sich gelassen haben. Der Mut und das Engagement zum Helfen wächst! (Daher freuen wir uns, dass wir als Kirchenkreis und Diakonie gemeinsam einen Stellenanteil gerade für die Koordination von Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsarbeit finanzieren können. Jens Flachmeier gebührt heute – neben allen anderen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern in diakonischen Projekten und Einrichtungen ein besonderes Augenmerk und Dank!)

 

„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“

 

Genauso kann es sein, wenn zum Jahresende Auguste-Viktoria am Jahresende schließt. Auch das kann eine Woge, eine Breitseite für diese Stadt sein – aber vielleicht erwächst auch die Kraft und die Solidarität, es gemeinsam durchzustehen.

 

Wir haben in der Gottesdienstvorbereitung darüber gesprochen, dass auch diese große Kirchengemeinde sehr selbstverständlich „Kirche für Andere“ sein will, ja so etwas wie ein soziales Gewissen dieser Stadt ist. Sie hat sich Hilfe für Schwächere auf die Fahnen geschrieben, eigenständig, aber im guten Miteinander zur verfassten Diakonie. Sie Jugendarbeit als ihren Schwerpunkt durchgehalten.

 

„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“

 

Es gibt Menschen, die sich durch die Not von Menschen anrühren lassen und ihnen einfach helfen. Kräfte werden freigesetzt. Es ist doch gut, dass wir wieder neu darüber debattieren, was die Würde des Menschen ist. Und dass unser Land stark genug ist, diese Aufgabe zu schultern. Und dass wir hier als Diakonie und Gemeinde eine wichtige Aufgabe entdeckt haben – neben allen anderen diakonischen Aufgaben.

 

VI.

Ist die Sturmstillung nun eine Geschichte von Lebensgefährdeten oder Kleingläubigen?

 

Liebe Gemeinde,

sie kann und soll beides sein.

 

Sie ist eine Geschichte von Lebensgefährdeten – wissend, dass Menschen derzeit erleben müssen, dass kein Jesus im Boot aufsteht und dem Wind Einhalt gebietet. Oder andere Menschen durch ihre Rettung tatsächlich ihr Recht und ihre Chance auf ein besseres Leben erhalten.

 

Und die Sturmstillung ist auch eine Geschichte, wo es um die Kleingläubigen geht, um das oft labile Gottvertrauen. Vertrauen wir darauf, dass Gott an unserer Seite ist? Dass Jesus uns in die Nachfolge ruft, ihm nachzutun in seinem Einsatz für den Menschen, ohne zu fragen, was der eigene Vorteil ist und warum mir plötzlich einer zum Nächsten wird?!

 

Diakonisch Gemeinde sein, könnte bedeuten, die Geschichte mit ihren beiden Seiten zusammenzubringen: als Geschichte von Lebensgefährdeten und als Geschichte von Jesus-Nachfolgen. Denn Glaube geschieht mitten im Leben, gerade im gefährdeten Leben. Und im Leid der Namenlosen zeigt sich Gott, der in Jesus Christus einer geworden ist wie du und ich und Aylan Kurdi, den Dreijährigen.

 

Amen.