Ist Gott für mich, so trete / gleich alles wider mich; / sooft ich ruf und bete, / weicht alles hinter sich. / Hab ich das Haupt zum Freunde / und bin geliebt bei Gott, / was kann mir tun der Feinde / und Widersacher Rott? (EG 351,1)
Predigt – Lutherkirche Altena
Reformationsfest 2014 #Phil 2,12-13
Ein evangelisches Kampflied. Röm 8 in Versmaß und Melodie: Was kann gegen uns sein? – Nichts Feindliches kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn …
Dieses Lied markiert, wenn auch gut 100 Jahre später geschrieben, die reformatorischen Entdeckungen und die vier großen Befreiungen von den Fesseln des damaligen Glaubens, die wir uns nicht fundamental genug vorstellen können: 4 „soli“, für mal „allein“:
- allein Jesus Christus rettet – kein Volksglaube, keine Heiligenfiguren, niemand anderes!
- allein die Gnade rettet – nicht die eigene Leistung kann mich vor Gott bestehen lassen, nicht die Absolution durch die Institution Kirche, sondern allein Gott selbst spricht Vergebung zu!
- Allein die Schrift leitet – und nicht menschliche Lehrgebäude und Traditionen. Und genauso auch nicht eine Geistbewegtheit ohne den Blick in die Bibel …
- Allein der Glaube genügt – allein das Vertrauen, dass es Gott gibt und er es gut mit uns meint…
Das reicht. Das ist genug.
II.
Diese Erkenntnisse sind tief eingedrungen über fast 500 Jahre in unsere Frömmigkeit und Kirche: Dass wir Protestanten ein etwas laxeres Verhältnis zur eigenen Institution Kirche haben, eher austreten, weniger zu Gottesdiensten kommen, uns schon gar nicht „von oben“ reinreden lassen.
Die reformatorischen Ideen haben viel zur unserer Geistesgeschichte beigetragen: dass der Mensch frei ist in der Bindung an Gott oder seine jeweiligen moralischen Letztbegründungen. Der Mensch ist nur seinem Gewissen unterworfen ist, so wie es bei Luther beim Wormser Reichstag schon vorgeprägt ist, als er nicht widerrufen kann, was er für sich als Wahrheit im biblischen Wort gefunden hat: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders …!“
Reformation ist tief eingesickert in unser Rechtsdenken, dass wir beim Menschen zwischen Person und Werk unterscheiden, also zwischen dem, was er als Wesen mit unverlierbarer Würde ist, und dem, was er als fehlbarer Mensch zu tun im Stande ist.
Aber ich frage mich schon: Was macht der evangelische Mensch (oder allgemein der religiöse Mensch) aus dieser dieser Freiheit, dass ihm kein Herr etwas vorzuschreiben vermag und er aus freien Stücken dem Nächsten zum Diener werden könnte?!
Verführen diese vier großen Freiheiten – v.a. aus Gnade zu leben – nicht zur Trägheit und Untätigkeit? Vielleicht sogar zur Laxheit und Passivität? Ist das Bild eines gnädigen Gottes womöglich viel zu langweilig, weil Gott nichts mehr fordert, nichts vorgibt, alles verzeiht, gegen das Leid in der Welt nicht aufbegehrt wie es ein allmächtiger Gott täte?!
III.
Unsere Fragen sind oft nicht mehr die Fragen allgemeinen Bevölkerung. Das Bewusstsein für die großen evangelischen Freiheiten schwindet, obwohl wir sie hier womöglich sehr relevant
Viele Menschen haben Gott vergessen – das ist so lange keine Katastrophe, wie sie es wissen, dass es ihn gibt, und sie wieder nach ihm suchen können.
Aber viele Menschen haben auch vergessen, dass sie Gott vergessen haben – und leben gut ganz ohne Religion.
Religion bewirkt nicht einmal mehr Widerspruch, sondern vor allem Gleichgültigkeit – übrigens ja auch unter unseren Gemeindegliedern, die oft ja nicht austreten aus Ärger oder wegen schlechter Erfahrung mit ihrer Kirche, sondern wegen fehlender Erfahrung. Der Glaube spielt keine Rolle in ihrem Leben mehr. Oder die Kirche ist einfach nur weit weg.
In letzter Zeit beobachte ich: Auch wir geraten ins Fahrwasser von grundsätzlichem Missbrauch von Religion. Wenn man unter der deutschen Google-Seite nach „Religion“ sucht, kommt heute als erster Treffer eine Nachricht über den Kampf des so genannten „Islamischen Staates“.
Das wird als Religion wahrgenommen, auch wenn sich alle Friedfertigen in den Weltreligionen, auch die Muslime, gegen einen solchen Missbrauch der Religion wehren. In einen Topf gerührt werden dann alle grundsätzlichen Anfragen, die sich dann auch an uns richten:
Ist Religion an sich anfällig fürs Extreme?
Ist Religion ein Reflex gegen die Moderne, also etwas etwas für Spinner oder Weltfremde? –
IV.
Im heutigen Predigttext schreibt Paulus an die Philipper (Phil 2,12-13):
Also, meine Lieben, – wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid [, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit,] – schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“
Auf den ersten Blick ist dies ein harmloser Textabschnitt: „Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“
Davon gehen wir aus als Religiöse. – Brisant wird er aber, wenn wir uns vor Augen halten: Paulus schreibt seiner selbsternannten Lieblingsgemeinde in Philippi, als die Gemeinde noch voll den Verfolgungen der Römer ausgesetzt sind. Auch Paulus sitzt deswegen gerade im Gefängnis von Ephesus und wartet auf seine Verurteilung: Christ sein ist damals lebensgefährlich. Das „Wollen und Vollbringen“ können die ersten Christen nur in die Gottes Hand legen, weil sie gar keine andere Wahl haben: Den ersten Christen sind wortwörtlich die Hände gebunden. „Mit unserer Macht ist nichts getan… „
Noch mehr Brisanz gewinnt der Text, wenn wir ihn in der Gegenwart lesen mit Blick auf die terroristischen Machenschaften der IS im Nordirak und in Syrien lesen, wo totaler Gehorsam im Schafspelz der Religion gefordert wird.
Im Phil spricht Paulus die Gemeinde ähnlich an: „Also meine Lieben, die ihr allzeit gehorsam gewesen seid…“. – Und dann: Werdet selig mit „Furcht und Zittern“.
„Gehorsam“ und „Furcht und Zittern“ – sind das die inneren Strukturen der Religion?
Nein!
Ganz im Gegenteil!
Der Gehorsam gilt nicht dem Menschen, Paulus fordert ihn nicht für sich ein. Sondern der Gehorsam gilt allein Gott. Er freut sich daran, dass die Gemeinde Gott treu und gehorsam geblieben ist.
Und das ist ein kritischer Blick gegen alle Institutionen und Mächte, Menschen und Religionsführer, die zuerst oder allein für sich Gehorsam einfordern. „Man soll Gott mehr gehorchen als dem Menschen“ (Apg 5,29) – eine biblische Orientierung und zugleich eine reformatorische Erkenntnis, der Luther nie widersprochen hat.
In der Erklärung zum 1. Artikel des Glaubensbekenntnisses spricht Luther dankbar von der Erschaffung aller Kreatur: „für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr.“ – Gehorsam gegenüber Gott!
Und: selig werden „mit Furcht Zittern“: „Furcht und Zittern“ sollen das menschliche Schaffen begleiten. Damit ist aber nicht „Angst“ gemeint, vielleicht die Angst vor dem Endgericht oder der Hölle, auch ist kein billiger Moralismus gemeint, dass sich Gläubigen untereinander unter Druck setzen– was ja in der Realität auch eine fatale Fehlentwicklung von Religion ist. Sondern: Die Christen in Philippi sollen sich nicht selbstsicher fühlen, nicht überheblich. Sie haben Gott nicht im Gegensatz zur nicht-christlichen Umwelt sicher in der Tasche und wäre in irgendeiner Weise damit überlegen, nein: Paulus mahnt eine nüchterne Selbsteinschätzung an.
V.
Eine solche kritische Selbstbegrenzung gehörte für die Reformatoren zum Bild vom Menschen: Wie bekomme ich als sündiger Mensch einen gnädigen Gott? – „Furcht und Zittern“ kannte Luther ein Leben lang in seiner Gottesbeziehung – und gleichzeitig gerade dadurch erwuchsen ihm unbändige Kräfte, sich mit ohne Furcht und Zittern mit den Kirchenführern und Fürsten seiner Zeit anzulegen.
Er entdeckte, dass der Mensch vor Gott nur bestehen kann, wenn er mit leeren Händen vor ihn tritt. Und wie genau diese Haltung bewirkt, frei zu werden für den Nächsten.
Ein absolute Freiheit, die paradoxerweise aus der der Bindung an Gott kommt! – Größer könnte der Kontrast zu den Beispielen missbrauchter Religion in der heutigen Zeit nicht sein!
Religion ist dann etwas, was meine Identität stärkt und Orientierung für mein Leben gibt, weil ich mich nicht selbst erfinden muss, sondern weiß, dass ich von Gott geliebt und gebraucht werde.
Ich muss mir meinen Lebensinn nicht selbst kreieren. Ich muss ihn mir erst recht nicht von anderen Menschen aufoktroyieren lassen.
Der Psychoanalytiker Tilman Moser sprach in den 1970er-Jahren in seinem berühmten Buch von der „Gottesvergiftung“, also von religiösen Neurosen, die Menschen aufgrund eines fordernden, strafenden und strengen Gottesbildes mit sich herumtragen. Religion kann – oft durch hierarchisches Gehabe von Religionsvertretern – wie ein Gift in der menschlichen Seele wirken.
Inzwischen hat Moser seine Position differenziert: Neulich sagte er in einem Interview, er habe festgestellt und akzeptiert, dass es „nicht jeder Mensch ein Leben ohne Gott aushalten“ kann und dass die Religion bei Menschen auch heilsame Wirkungen erzeugt: „Es ist das Geheimnis gläubiger Seelen, dass ihr Gottvertrauen und die Geborgenheit in einer frommen Gemeinde ihr Leben stabilisieren. Dass der Glaube ihnen die Angst nimmt, sie zuversichtlicher und manchmal auch mitmenschlicher werden lässt.“
Das ist reformatorisch und biblisch mit Blick auf den Predigttext: Gott bewirkt das Wollen und Vollbringen. Allein aus Gnade. Wo dieser gnädige Gott, den die Bibel bezeugt, erkannt wird, ist ein große Freiheit da – und alles andere als Langeweile: Denn dort kann’s ans Werk gehen, mit gebührender „Furcht und Zittern“, weil keine Religion sich ihres Gottesbildes sicher sein kann – schon gar nicht gegenüber Anderen. Aber gerade darin Kraft und Zuversicht liegt, dass man Gott suchen kann und er sich finden lässt.
Das können und dürfen wir auch weiter in unserer so unnachahmlichen evangelischen Art tun, die auch heute immer noch eine erstaunliche Ausstrahlung hat und etwas in die religiöse Landschaft einzeichnet, das ohne sie erfunden werden müsste.
- Die Welt, die mag zerbrechen,
du stehst mir ewiglich;
kein Brennen, Hauen, Stechen
soll trennen mich und dich;
kein Hunger und kein Dürsten,
kein Armut, keine Pein,
kein Zorn der großen Fürsten
soll mir ein Hindrung sein.