Christen gegen Christen (Karfreitag 2014 zu Jes 54,4-5)

Auch an diesem Tag schauen viele Menschen bangen Auges auf die Ukraine, auf die angespannte Situation in den Städten im Osten des Landes, in denen sogenannte „pro-russische“ Kräfte, schwer bewaffnet, den Anschluss an Russland fordern.

Predigt – Lutherkirche Altena

Karfreitag 2014 #Jes 54,4-5: Gottesknechtslied

 

Ihnen stehen Menschen gegenüber, die Bürger der Ukraine bleiben möchten; in ersten Auseinandersetzungen hat es schon Tote und Verletzte gegeben. Niemand weiß zur Stunde, wie sich die Lage dort entwickeln wird: Siegt die Diplomatie oder wird die Gewalt die Oberhand gewinnen?

 

Ich gebe ehrlich zu: Wenn ich abends die Nachrichten aus diesem Land sehe, schüttele ich verständnislos den Kopf. Wie können Menschen sehenden Auges in einen Bürgerkrieg oder sogar in einen internationalen Konflikt schlittern?

 

75% der Ukrainer sind orthodox. Wie können Christen eine Kalaschnikow auf andere Christen richten? Die Kirche ist gespalten: Die einen schwenken Weihrauch über den nationalistischen Parolen der Ukrainer, die anderen suchen die Nähe zum russischen Präsidenten und zur Mutterkirche.

Ich habe den Eindruck: Alle Beteiligten meinen, sie wären im Recht: Russen in der Ukraine pochen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Kiewer Regierung will die Einheit des Landes erhalten. Und der Westen?

 

II.

Macht haben und – im negativen Sinne „Recht behalten“ – es ist schon am Karfreitag vor fast 2.000 Jahren die alles bestimmende (und Tod bringende!) Haltung: Da pocht der Hohepriester auf seine Haltung, einen Gotteslästerer zu verurteilen und das jüdische Volk zu schützen. „Besser es stirbt einer, als dass ein ganzes Volk leidet.“

Da pocht die römische Staatsmacht auf ihre Macht, einen Aufwiegler hinzurichten.

 

Der Prophet Jesaja, 500 Jahre vor Christus, zeichnet uns im 53. Kapitel ein ganz anderes Bild eines Menschen, des Gottesknechtes, den wir Christen mit Jesus identifizieren dürfen. Ich lese eine neuere Übersetzung:

 

Aber es war unsere Krankheit, die er [der Gottesknecht] trug, und es waren unserer Schmerzen, die er auf sich geladen hatte. Wir hielten ihn für bestraft, für einen, der von Gott geschlagen und erniedrigt wurde.

„Jedoch ist er aus unserem Vergehen heraus verwundet und aus unserem Versagen heraus zerschlagen worden. Die Einsicht, die zu unserem Frieden führte, war auf ihm. Und durch die Gemeinschaft mit ihm sind wir geheilt worden. (Jesaja 53,4-5)

 

III.

Diese Worte gehen mir schwer über die Lippen, nicht nur wegen der verdichteten Sprache. Sondern wegen des Inhalts: Da wird ein Mensch in seinem ganzen Elend geschildert – voller Schmerzen, gemartert, verachtet, verspottet. Andere Menschen behalten die Macht über ihn. Und diese Macht ist mit Gewalt legitimiert.

 

Das muss ich erst einmal aushalten. Ich muss den Karfreitag aushalten. Ich muss mich den Fragen dieses Tages stellen:

Warum musste Jesus, der Gottessohn, sterben?

Wusste Gott keinen anderen Weg zu unserer Erlösung?

Was ist das für ein Gott, der seinen Sohn so fürchterlich zugrunde gehen lässt?

Aber auch: Was sind das für Menschen, die dies mit verursacht haben? Oder stumm danebenstehen?

In welcher (womöglich sicheren) Entfernung zum Kreuz hätte ich gestanden?

Warum steht das Kreuz immer noch in unserem Leben? Warum müssen Menschen heute leiden?

 

Diese Fragen sind nicht gleich mit unserem Gottesglauben beantwortet. Ganz im Gegenteil: Sie können an meinem Glauben nagen, meine Existenz als Christ infrage stellen. Sie lassen mich am Menschen zweifeln, allzu oft!

 

IV.

Mit dem Predigttext werden die Fragen noch verschärft. Wenn wir den leidenden Gottesknecht auf Jesus am Kreuz beziehen dürfen, dann frage ich mich weiter:

Warum muss gerade der, der ohne Schuld ist, leiden?

 

Der Gottesknecht pocht nicht auf einen Machtanspruch, sondern lässt sich zu den Unrechten zählen. Jesus stirbt mittig, rechts und links zwei Verbrecher.

 

Es wirkt so, als ließe sich der Gottessohn ohne Einspruch zur Schlachtbank führen. – Heftig ist zuletzt in der Theologie gestritten worden, wie der Opfertod Jesu zu verstehen ist: Wie kann Gott, der ja die Liebe ist, seinen eigenen Sohn dem Kreuzestod ausliefern? Wie soll dieses Opfer den Menschen Heil bringen_

 

In der Tat widerspricht es meiner Vorstellung, dass Gott, durch die Sünden der Menschen beleidigt, durch ein blutiges Opfer versöhnt werden muss. Nicht Gott muss versöhnt werden, sondern der Mensch ist versöhnungsbedürftig. Und Gott versöhnt sich mit ihm (Röm 5,19): Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihren Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“

 

Es bleibt aber die Frage: Doch wie können wir das Leiden des Gottesknechtes, den Kreuzestod Jesu deuten, damit es Sinn macht und eine Antwort wird, was wir in der Welt erleben, nämlich dass die Macht des Stärkeren so oft über alles geht?!

 

V.

Drei kurze Antwortversuche:

Erstens:

Im Kreuzestod zeigt sich unüberbietbar der Sinn des Lebens Jesu, als Diener gekommen zu sein – bis zur letzten Konsequenz: nämlich für seine Sache, die Liebe Gottes unter die Menschen zu bringen, sogar zu sterben.

 

In Jesu Tod findet das „Gott mit uns“( = Immanuel), die Menschwerdung von Weihnachten, seinen Höhepunkt: Es ist pure Hingabe zum Mitmenschen: „compassion“, Leidenschaft im Wortsinn.

 

So verstehe ich Opfer: Sein Tod ist keine Sühne für unsere Sünden, sondern radikale Solidarisierung mit uns Sündern.

Nicht ein unbarmherziger Gott opfert seinen Sohn. Sondern sein Sohn – und damit Gott selbst – opfert sich aus Liebe.

 

Es gibt einen wichtigen Ausspruch des Pilatus, als die Soldaten Jesus eine Dornenkrone aufsetzen: Ecce homo! Seht, welch ein Mensch! Als ob er in diesem Moment eine Ahnung davon gewinnt, dass Jesus seine Hingabe zu den Menschen durchhält – und eben nicht in den Machtmodus und in den Ich-habe-Recht-Modus wechselt. Was für ein Mensch! Wie anders! Wie vollkommen!

 

Zweitens:

Jesus stirbt um unserer Sünden willen, weil der Mensch aus eigener Kraft nicht gerecht werden kann. Der Mensch pocht immer wieder auf seine Macht und setzt sich selbst ins Unrecht. Er mag er sich noch so anstrengen, er bleibt ein Sünder und auf Gnade angewiesen.

Ekke home, sagt Pilatus: Es kann auch übersetzt werden mit Blick auf die Umstehenden: „So ist der Mensch“: Ja, so ist der Mensch (und vielleicht meint Pilatus sogar sich selbst): Fehlbar. Erlösungs –und vergebungsbedürftig. Immer wieder um seine Macht kämpfend.

 

Jesaja entlarvt es: Der Gottesknecht ist „aus unserem Vergehen heraus verwundet und aus unserem Versagen heraus zerschlagen worden.“ Jesus ist den Menschen seiner Zeit zum Opfer gefallen.

 

Das steht allen Sehenden an Karfreitag vor Augen. Aber gerade das ermöglicht Umkehr und Neuanfang, schon unter dem Kreuz: Durch seine Wunden sind wir geheilt.

 

Es gibt eine Alternative.

 

Das Kreuz offenbart: Menschen haben Mitschuld und Mitverantwortung an Gewalt und falschem Machtstreben. Aber Gewalt, auch Krieg und Bürgerkrieg zwischen Völkern und Nationen ist kein Naturgesetz.

Karfreitag zeigt: Es geht auch anders – um Christi willen. Der Tod Jesu befreit uns von Hass und befähigt uns zur Barmherzigkeit. Und Barmherzigkeit kann auch eine Kategorie politischer Klugheit sein!

 

 

Dritter Antwortversuch, welchen Sinn der Kreuzestod auch für unsere heute Welt macht:

 

An jedem Tag, heute ganz besonders, stellt sich die Frage nach dem Leid. Das Leid der Menschen ist der Scheidepunkt unseres Lebens. Das erleben Menschen allzu stark, die plötzlich einen Angehörigen verlieren und sich ihr Leben dadurch dramatisch verändert.

 

Wir begegnen an Karfreitag dem Leid mitten in der Öffentlichkeit. Auf Golgatha. Wie ich darauf reagiere, ist nicht egal, sondern eine zentrale Frage meines Lebens.

Deshalb ergibt es einen Sinn, dass Gott das Kreuz mitten im Leben lässt. Denn wäre es das Leid nicht in dieser Härte sichtbar und öffentlich, würde Gott uns vormachen, dass Gut und Böse in der Welt dasselbe ist. Das ist es aber nicht!

 

Gott gibt uns den Stachel ins Fleisch, damit wir spüren, was die Welt braucht: Liebe, Erbarmen, Versöhnungsbereitschaft. Zurückstecken! Aufeinanderzugehen!

 

Christinnen und Christen beten seit 1959 jeden Freitag – auch heute! – in Coventry die Versöhnungslitanei. Sie tun das nicht als Selbstkasteiung, obwohl man ja feststellen kann: Gerade die, die sich offenkundig am wenigsten Vorwürfe machen brauchen, haben einst um Vergebung gebeten.

 

Sie tun es – so denke ich –, weil es eine weitergegebene Erfahrung und Lehre gibt, die öffentlich wachgehalten gehört.

Die Einsicht, die zu unserem Frieden führt, liegt auf ihm, dem Gottesknecht, schreibt Jesaja, schon 500 Jahre vor Jesus.

Also lasst uns mahnen und den Frieden einüben und einklagen – im Kleinen wie im Großen. Es gibt eine Alternative!

Und lasst uns für einander annehmen, dass sich für unser Leben bereits ein anderer Weg eröffnet hat, auch und gerade wenn er unter das Kreuz führt: Jesaja schreibt:

 

„Durch die Gemeinschaft mit ihm sind wir geheilt.“