Hinter den Kulissen der Macht (Judika 2013, Joh 11,47-53)

Der Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría wurde einmal gefragt, was seine ersten Amtshandlungen als neuer Papst wären. „Am ersten Tag“, soll er geantwortet haben, „würde ich die Kunstwerke der Vatikanischen Museen verkaufen und das Geld den Armen spenden.

Predigt Judika – Lutherkirche Altena

#Joh 11,47-53

 

Am zweiten Tag entließe ich alle Kardinäle, um einen echten Neuanfang im Vatikan möglich zu machen. Und am dritten Tag…“, da wurde er von einem lächelnden Zuhörer unterbrochen: „Den dritten Tag, Ignacio, würdest Du gar nicht mehr erleben.“

 

II.

Die Vorhaben – und die möglichen Folgen – erinnern mich sehr an Jesus. Ja, er hat den Tempel gereinigt. Ja, er hat die Pharisäer und Hohenpriester, die religiösen Führer seiner Zeit, entmachtet: Er stellte sich nicht gegen die Weisungen des Mose, aber er interpretierte sie konsequent vom Menschen her und dachte radikal von den Schwächsten und den Außenseitern. So kam er nicht weit (Lesung aus Joh 11,47-53 Bibel in gerechter Sprache):

 

46Aber einige von ihnen gingen zu den Pharisäerinnen und Pharisäern und erzählten ihnen, was Jesus getan hatte. 47Die Hohenpriester, Pharisäer und Pharisäerinnen beriefen nun eine Synhedriumssitzung [den Hohen Rat] ein und sagten: »Was sollen wir machen, da dieser Mensch viele Wunderzeichen tut? 48Wenn wir ihn einfach so gewähren lassen, werden alle an ihn pisteuoglauben und die römische Staatsmacht wird kommen und uns den Ort und das ethnosVolk [Land und Leute] wegnehmen.« 49Einer aber von ihnen, Kaj[a]phas, der in jenem Jahr Hoherpriester war, sagte ihnen: »Ihr wisst nichts, 50und ihr versteht nicht, dass es für euch besser ist, dass ein Mensch für das laosVolk stirbt und nicht das ganze ethnosVolk zugrunde geht!« 51Dies sagte er nicht von sich selbst aus, sondern weil er in jenem Jahr Hoherpriester war, prophezeite er, dass Jesus für das Volk sterben werde 52– und nicht für das Volk allein, sondern um auch die verstreuten Kinder Gottes zu einer Einheit zu sammeln. 53Seit jenem Tag nun stand ihr Beschluss fest, ihn zu töten.

 

III.

Der Evangelist Johannes lässt uns hinter die Kulissen der Macht schauen. Er zieht den Vorhang weg, der die Beratungen damals sicher so perfekt verdeckt haben wie in einem Konklave.

Als Jesus nach Jerusalem kommt, ist das Passahfest nahe. Erinnerungen an die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten werden wach bei den Einwohnern, bei den tauenden von Pilgern. Früher er Pharao – zu jener Zeit nun die Römern! Die Verantwortungsträger sind nervös, die Polizei in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Das Schwert der römischen Soldaten sitzt locker. Ein Jahr zuvor hatte der römische Statthalter Pilatus unter Pilgern aus Galiläa ein Blutbad im Tempel angerichtet.

Die Galiläer waren besonders gefürchtet wegen ihrer Befreiungsbewegungen, Zeloten waren sie. Sie hatten zum Passah schon häufiger einen Messias, einen göttlichen Gegenkönig gegen den Kaiser proklamiert. Und jetzt trafen täglich Nachrichten ein von einer neuen messianischen Bewegung aus Galiläa ein, die von einem Jesus von Nazareth angeführt wurde und sich jetzt Jerusalem näherte.

Dieser Jesus stellte keinerlei weltliche Machtansprüche, aber vielleicht ging ja gerade deshalb Gefahr von aus – weil seine Botschaft tiefer griff als eine politische Parole und gerade darin besondere politische Sprengkraft besaß. Das Volk – so hieß es – war begeistert von seiner Ausstrahlung, und diese Begeisterung würde jetzt in die Stadt hinein schwappen und könnte sich beim Begehen des Befreiungsfestes schnell gegen die Römer wenden. Höchster Handlungsbedarf gegeben. Schnellstens musste das Synhedrium – die Spitze der jüdischen Selbstverwaltung – zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen werden.

„Was sollen wir angesichts dieser unkalkulierbaren Gefahr tun?“ fragte man sich vermutlich. Den Dingen einfach ihren Lauf lassen?

Kaiphas, der erfahrene Hohepriester, wohl ein kluger Kopf, entscheidet nüchtern: Hier muss einer sterben, bevor viele verderben. Es ist besser: ein Mensch stirbt für das Volk, als dass das ganze Volk zugrunde geht. Wie eine Protollnotiz klingt es: „Von dem Tage an war es für sie beschlossen, dass sie ihn töteten.“

 

IV.

Szenenwechsel: Die Anekdote vom Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría – was würdest Du machen, wenn Du Papst wärest?! – stammt aus einer Zeit, in der das bloße Bekenntnis zu einer „Option für die Armen“ in Lateinamerika zum Todesurteil werden konnte. Militärregierungen im ganzen Kontinent erkannten die Gefahr, die von Theologen und Basisgemeinden ausgingen, die sich verstärkt mit ihren sozialen Lebensbedingungen auseinandersetzten. Viele Reformen gehen auf eine Bischofskonferenz im Kolumbien 1968 zurück, die gravierende Ungerechtigkeit auf dem Kontinent anprangerten. Damals wurde mit der „Theologie der Befreiung“ zugleich eine politische Bewegung geboren, die Jesus als Bruder der Entrechteten verstand und auf Gott als Befreier von Militärdiktaturen setzte.

Durch die lateinamerikanische Kirche ging damals, ein Riss: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es kaum eine Bischofskonferenz in Südamerika, in der nicht zumindest einzelne Hirten der jeweiligen Militärregierung nahe standen.

Religiöse Führer verrieten, lieferten aus die eigenen Brüder aus, die sich radikal für die Unterdrückten einsetzten und sich verdächtigerweise auf ihre Seite schlugen.

 

Lieber einer statt alle?! Stirbt besser einer statt dass viele sterben?

Jesus – ein Bauernopfer für die Interessen des Hohen Rates?! Im Schachspiel ist der Bauer eine Schachfigur unter anderen, eher unbedeutend, aber seit alters her Manövriermaße. Diese Figur muss sich nichts vormachen.  Sie muss als erstes daran glauben, wenn eine wertvollere Figur bewahrt werden soll – oder dem Spiel Luft zu verschaffen ist.  Ein Bauer wird dann einfach geopfert.

Blieb dem Kaiphas womöglich keine andere Wahl, nicht wegen Jesus, sondern weil die Menge sonst „explodiert“ wäre? Oder missbraucht er seine Machtposition, indem er Jesus einfach wie ein Bauernopfer opfert?

Denken wir an den Konflikt, den in den 1970er-Jahren Bundeskanzler Helmut Schmidt aushalten musste bei der Entführung von Hans Martin Schleyer: Letztlich entschied er, nicht auf die Forderungen er Entführung einzugehen, weil sich der demokratische Staat nicht erpressbar machen darf. Er opferte so das Leben des Einzelnen, um die Rechtsordnung der Vielen aufrecht zu erhalten.

 

VI

Hier liegt der Fall wohl anders. Bei Kaiphas führt nicht Verantwortungsgefühl und Weitsicht die Hand, sondern Kalkül – und vor allem Angst. Was hatte Jesus denn gemacht? – Die Menschen hatten ihm einfach geglaubt. Glauben als Gegenteil von Angst: Sie hatten Hoffnung gefasst, sie hatten den Eindruck, dass das Leben ganz anders verlaufen kann als in den vorgegebenen Bahnen der Römer, auch der Schriftgelehrten.

Aus dieser Angst heraus, beschließen sie: Jesus muss für uns sterben!

Achtung: Tatsächlich sagen wir heute oft: „Jesus ist für uns gestorben.“ Aber hier gibt es einen kategorialen Unterschied: Jesus stirbt nicht für uns, für mich, weil es Kaiphas so entschieden hätte („Lieber soll einer sterben, als viele oder als wir“). Dann wäre Jesus tatsächlich ein Bauernopfer gewesen, und es hätte sich nichts geändert. Kaiphas‘ Variante deckt eher die die Sünde des Kreuzes auf: nämlich dass Menschen Jesus beseitigen wollten, in der Hoffnung, dass Ruhe und Ordnung einzieht, sich nichts ändert – und aus Angst, dass einem selber nichts passiert.

 

Dass da einer gestorben ist, damit nicht ein ganzes Volk verderbe – das hat einzig und allein mit Jesus selber zu tun und seiner freien und souveränen Lebenshingabe. Er hat sein Leben für uns geopfert (und nicht Kaiphas hat Jesus geopfert, wie überhaupt völlig abwegig ist, dass ein Menschenopfer Heil bringen kann – wir haben die alte Abrahamgeschichte (Gen 17) gehört, die bei allem Schauer ganz deutlich macht: Gott will keine Menschenopfer und sie können kein Heil bringen! Gott will keine Bauernopfer!)

Heil bringt allein die Hingabe Jesu: Sie bestand in der bedingungslosen Liebe zu den Schwächsten, die am meisten Zuspruch brauchten. Sie bestand in der radikalen Parteinahme für die, die ausgebeutet wurden, die nicht angesehen waren – sei es durch die Römer, sei es durch die eigenen Glaubens- und Volksgenossen.

In dieser Parteinahme und Hingabe Jesu wendet sich das Leid und das Unheil: zu Hoffnung und Heil für andere. Das ist das Geheimnis des Kreuzes – und das tiefe Geheimnis aller, die dem Gekreuzigten nachfolgen.

 

 

VII.

Kaum eine Bischofskonferenz in Südamerika, in der nicht zumindest einzelne Bischöfe der jeweiligen Militärregierung nahe standen. Auch dem neuen Papst Franziskus wird ja vorgehalten, in Argentinien zu eng mit seiner Militärregierung verbündet gewesen zu sein. Überhaupt hat Rom viele Jahre – angstvoll – die Theologie der Befreiung bekämpft.

Die römische Kirche in Südamerika war hier und da sehr nahe bei Kaiphas, der Religion und Politik geschmeidig verknüpfte. – Wir sind es aber genauso!

Aber dann gab es immer wieder welche, die ihren ganzen Mut und ihre ganze Hoffnung zusammen nahmen, um – wie einst die Jünger und wie immer mehr Menschen – sich ganz hinter Jesus zu stellen. Ihn nicht als Bauernopfer zu opfern, sondern seiner liebenden Hingabe Geltung zu verschaffen: San Salvadors Erzbischof Oscar Romero, der 1980 während einer Messe erschossen, weil er unabänderlich auf die Ermordung und Verschleppung von Menschen hinwies. Und Raúl Silva Enríqez, Erzbischof von Santiago de Chile, der die Vicaría de la Solidaridad gründete, die unzähligen Verfolgten unter Augusto Pinochet das Leben rettete. Immerhin haben sich die argentinischen Bischöfe 2000 für das Verhalten der Kirche in der Diktatur entschuldigt. Der Prozess der Aufarbeitung wird aber noch viele Jahre brauchen.

 

VIII.

Der Amtstheologe Kaiphas oder der Wanderprediger Jesus – als Kirche und einzelne Christen pendeln wir zwischen diesen beiden Religiösen hin und her. Daran entzündet sich die Wahrheitsfrage.

Der neue Papst wird nicht die Kunstschätze des Vatikan verkaufen und das Geld den Armen spenden (so ähnlich hat es der Journalist und Kirchenkritiker Dominan unter der Woche bei „Hart aber fair gefordert). Er wird auch nicht die Kardinäle entlassen.

Aber man wird ihm mit seiner Vorgeschichte und seiner Herkunft, als religiös Mächtiger, der womöglich zu eng mit den Mächtigen der Welt verbunden war, darauf verhaften, ob er wirklich ein „Papst der Armen“ sein wird. Diese Rolle wird er heute mittag heute beim ersten Angelusgebet für sich in Anspruch nehmen.

Es ist gleichermaßen auch eine Frage an uns, ob wir als Kirche, als einzelne Christinnen und Christen, mehr auf der Seite Jesu stehen und weniger bei den Mächtigen und Opportunen. Den Standpunkt einzunehmen, fällt uns alle, auch mir schwer: Auch in unserem Kirchraum glänzt Gold und wir finden oft schwer den Weg zu den Bedürftigen und Armen. Es müssen ja nicht nur die materiell Armen sein, sondern auch die Mutlosen und Traurigen, die Resignierten, sogar die Angstvollen, also Typen wie Kaiphas.

Es ist die Frage, ob wir uns leiten lassen von der Angst, es uns ja nicht mit den Mächtigen zu verscherzen. Oder ob wir uns leiten lassen vom Christusglauben, das sich die Welt anders darstellen kann: gerechter, gewaltloser, weniger hierarchisch.

Unsere Hingabe – sie wird in den meisten Fällen nicht die Lebenshingabe bedeuten. Wir sind nicht Jesus, können es auch nicht sein. Aber in kleinen Schritten können wir Glaube zeigen und Angst überwinden.

Ich bin mir sicher, dass die Kirche genau dort glaubwürdig bleibt, wo sie ihre Haltung vertritt, ohne auf ihre Macht zu bauen.

 

IX.

„Lassen wir Jesus so, dann werden alle an ihn glauben“, fürchtet Kaiphas. Das muss mit der Erfahrung von Ostern her keine Angst mehr sein, sondern eine Verheißung! Ich wünsche mir von uns (und auch ein wenig von einem lateinamerikanischen Papst), dass wir diesen radikal liebenden Jesus nicht aufgeben, nicht opfern!