„Mein inniggeliebter Otto! – Ich weiß nun meinem Herzen nicht weiter Luft zu machen, als mich in Schreiben zu vertiefen. Dein Bild steht vor mir, und so oft ich dieses ansehe, denke ich an den letzten Abend in Aschersleben.
Predigt Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres
Volkstrauertag Lutherkirche Altena
#Apk 2,8-11
Mein guter Otto, seit Dienstag bin ich ohne Nachricht von Dir. Auf keinem Fleck habe ich Ruhe. Tu mir, mein Schatz, nur das nicht an und lass mich nicht so lange warten. […] Auch bist Du gewiss schon im Gefecht. Ach möge Dich doch dort der liebe Gott glücklich wieder herausführen.
Du hast doch sonst immer, wenn irgend es Deine Zeit erlaubte, uns geschrieben. Wir warten so sehnsüchtig auf Deinen uns versprochenen Brief. Bis morgen will ich noch hoffen (…). Bekomme ich aber auch morgen nichts, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll. Also, mein treuer Schatz, vergiss uns nicht. Bedenke meine Unruhe.“
(Marie Rößler aus Quedlinburg am 24. September 1916 an ihren Mann an der Westfront in Frankreich.)
Die von Angst und Verzweiflung geprägten Worte erreichen Otto Rößler nicht mehr. Er ist vier Tage vorher gefallen. Seine Frau erhält diesen sowie andere von ihr geschriebene Briefe mit den Vermerken zurück: „auf dem Felde der Ehre gefallen“ und „starb den Heldentod“.
Gedenktafeln in der Kirche
Welche Briefe damals noch? Wie viele!?
Mit welchen Gefühlen sind Soldaten wirklich gefallen?
Was haben sie erlebt? Wie haben sie über Krieg und Frieden gedacht als welche, die wirklich dabei waren?
Hinter jedem Namen steckt ein persönliches Schicksal. In jeder Zeile eines Briefes lauert ein unbarmherziges Desaster. Mit der Todesnachricht brach für viele Angehörige hinter der Front eine Welt zusammen.
„Sei getreu bis in den Tod!“ Der Satz, so wie er auf manchen Gedenktafeln steht, ist aber keine Erfindung einer klugen Propagandaabteilung. Er stammt aus dem 2. Kapitel der Offenbarung des Johannes, und er gehört zum Predigttext für den diesjährigen Volkstrauertag.
Von Christus selbst erhält Johannes folgenden Auftrag: Der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden:
9 Ich kenne deine Bedrängnis und [a] deine Armut – du bist aber reich – und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern sind die Synagoge des Satans.
10 Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage.
Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die [b] Krone des Lebens geben.
Das biblische Buch der Offenbarung beschreibt ein Ende der Welt. Es muss den Christinnen und Christen muss vor gut 1900 Jahren wirklich vor Augen gestanden haben. Johannes, selbst ein Gefangener, will sich nicht damit abfinden und schreibt den Frauen und Männern in den bedrängten Gemeinden.
Eines der Schreiben richtet sich an die Gemeinde von Smyrna, dem heutigen Izmir in der Türkei. Von Lästerungen, die die Christinnen und Christen aushalten müssen, ist dort die Rede. Vom Satan, der kommt, und dem Teufel, der alle ins Gefängnis steckt.
Die erschreckenden Bilder haben System. Mit seinen drastischen Schilderungen verleiht Johannes den Gefühlen der gefährdeten Menschen Ausdruck. Er gibt damit den Ohnmächtigen eine Sprache.
Sei getreu bis an den Tod …
Er tröstet, ausgerechnet mit Versen, die uns heute auf vielen Kriegsdenkmälern begegnen.
Treue bis in den Tod? Heute am Volkstrauertag stehen wir fast auf den Tag genau 70 Jahre nach dem Ende Stalingrads – dem Anfang vom Ende des Hitler-Krieges, der Europa in Schutt und Asche legte, dem Innbegriff des sinnlosen Mordens, Synonym dafür, was Menschen Menschen antun können. Welche Bilder des Entsetzens und Grauens sind nicht mit dieser Schlacht von Stalingrad verbunden?
Stalingrad – auch Sinnbild für blinde Treue bis in den Tod. Für wahnwitzigen Gehorsam.
Ich habe vor 15 Jahren eine Tagung besucht, 55 Jahre nach Stalingrad: eine Begegnung russischer und deutscher Soldaten. Es flossen Tränen – mehr als halbes Jahrhundert danach war nichts vergessen, nichts vergangen. –
Meine Generation brauchte und braucht die Erzählungen unsere Großeltern und Eltern, um vom Krieg zu erfahren. Meine Generation schaut wohl als erste seit fast 200 Jahren in Deutschland auf ihre Eltern-Generation, in der die Väter nicht im Krieg fallen …
Oder nicht? – Auch Deutschland ist heute wieder in Kriege verwickelt, als Bündnispartner. Und Krieg ist heute nicht, wie er uns oft ins Haus serviert wird: eine digitale Auseinandersetzung mit Joystick am Bildschirm. Kein sauberer Krieg, in dem unbenannte Drohnen allein militärische Ziele treffen.
52 Bundeswehrsoldaten fielen in den vergangenen Jahren in Afghanistan, allein 11 in den letzten zwei Jahren.
Es ist wieder Realität, dass die Feldpost Briefe voller Sorge und Angst, voller Verzweifelung und Bangen hin- und herschickt …
Krieg ist Realität.
Und ich bin ihm auch ganz nahe gekommen.
Von dort, wo Fernsehkameras in diesen Tagen die Skyline von Tel Aviv aufnehmen, das von den Blitzen der einschlagenden Raketen erleuchtet wird, dort habe ich vor drei Wochen als Tourist gestanden.
Gestern abend in den Nachrichten: flüchtenden Israelis von den Stränden Tel Avivs, wo unsere Reisegruppe vor 20 Tagen noch gemeinsam in der Abendsonne gesessen haben. Wir haben die verschiedenen Ecken des Strandes genau wiedererkannt!
Ich bekomme eine Ahnung davon, wie plötzlich der Hass neu entflammt auf zwei Seiten und nicht nur an den extremen Rändern.
Wie überall auf der Welt kann Krieg sein, ganz plötzlich, und schnell stirbt die Wahrheit.
Getreu bis in den Tod: Wie widerstandsfähig sind wir gegen blinden Schwur auf Fahne und Volk? Oder heute diffiziler: Können wir nein sagen, wenn allzu schnell militärische Interventionen in Erwägung gezogen werden (wie jetzt in der überhasteten Debatte um deutsche Abwehrraketen in der Türkei), aber längst nicht alle politischen Mittel ausgeschöpft sind? Auch heute sind oft allzu simple Visionen schuld daran, dass Krieg geführt wird!
IV.
So hat Johannes seinen Satz mit der Treue nicht gemeint. Sicher, es ist auch eine wie eine christliche Durchhalteparole.
Sei getrost bis in den Tod, so will ich die die Krone des Lebens geben. So spricht Christus.
Es geht in der Apk um die Entscheidung, wem der Mensch mehr gehört und „gehorsam“ ist: ob er sich selbst gehört und verfängt in seiner Anfälligkeit und Schwäche für Unversönlichkeit und Misstrauen – oder ob er Jesus Christus gehört und seiner Botschaft traut, zu vergeben und immer wieder neu aufeinander zuzugehen.
Bei dieser Entscheidung geht es nicht um eine naive Weltflicht, raus aus den Problemen der Welt und hinein in eine allzu simple religiöse Überzeugung – nein: Es geht um eine buchstäbliche Grund-Überzeugung. Um das Fundament. Um die Frage: Ver(sch)wende ich meine Treue an Personen oder Ideen? Oder bewahre ich meine Treue Gott auf, so wie er sie mir aufbewahrt und stets erneuert? Bin ich innerlich so frei, um Gott meinen Herrn sein zu lassen, mich von seinem Wort des Friedens leiten zu lassen?
Traue ich der Botschaft, dass die Friedfertigen am Ende glücklich sind (Bergpredigt)? Glaube ich an die Überwindung von Gewalt hin zu einem gerechten Frieden? Dass die Zeit kommt, in der Schwerter zu Flugscharen geschmiedet werden, also Waffen, die Leben zerstören, umgewandelt werden zu Werkzeugen, mit denen Menschen das Land beackern können, auf dem sie sich mit neuer Hoffnung niedergelassen haben.
Es geht um diese Grund-Entscheidung – und nicht um die einzelne Situationen, in denen als absolut letzte Möglichkeit auch Waffen eingesetzt werden könnten. Nein. Es geht immer wieder um die Grund-Entscheidung, ob wir innerlich frei entscheiden und von Gottes Frieden her dem weltlichen Frieden mehr trauen als dem Krieg. Letztlich: der Liebe mehr als dem Hass.
„Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir Krone aufsetzen“: Bei Gott wartet die wahre Erfüllung („Krone“). Die Geschichte Christi endete selber wahrlich nicht im Rausch der Heldenverehrung, sondern beim bitteren Kelch des gewaltsamen Todes am Kreuz. Er gibt sich hin, um Gott „treu zu bleiben bis in den Tod“. Diese Treue ist heilsam – und paradoxerweise belohnt Gott sie mit der Krone des Lebens, mit dem Zeichen der weltlichen Macht.
V.
Seit der Erfahrung von Stalingrad feiern wir keine Heldengedenktage mehr, sondern Volkstrauertage (Nikolaus Schneider).
Wir suchen Orte und Räume, um in uns zu gehen. Wir ringen um Frieden in dieser komplizierten Welt.
Lasst uns mehr darüber reden, wie wir den Frieden schützen! – Wir Deutschen sind nicht unbeteiligt, an Kriegen und Auseinandersetzungen, nicht nur als Armee, sondern vor allem auch als drittgrößter Waffenexporteur der Welt. Die Landessynode hat in der letzten Woche mit großer Mehrheit das Wort erhoben, dass Waffenexporte in Krisengebiete und Diktaturen endlich unterlassen werden!
Lasst uns doch lauter sagen, dass Kriege immer Menschenleben zerstören – so wie die Familie von Marie Rößler aus Quendlinburg im Ersten Weltkrieg zerstört würde und es heute Familien trifft in allen Ländern, die in kriegerische Auseinandersetzungen verquickt sind. Kriege zerstören Leben – auch wenn sie unter dem Mandat der UN geführt werden! Krieg bleibt Krieg!
Lasst uns nicht meinen, mit Kriegen Frieden schaffen zu können! Kriege enden nie im Frieden!
Lasst uns nach unseren Kräften am Frieden bauen-ihn vorbereiten. Lasst uns für den Frieden beten! Heute am Volkstrauertag und morgen im Alltag der Welt.
Keine Helden werden wir sein – aber wir werden die Krone des Lebens geschenkt bekommen!