Dem deutschen Volk – Gottes Segen für die ganze Welt (Andacht im Reichstag 2011)

Vor Euch liegt ein Bild vom Ökumenischen Kirchentag 2003: der Abschlussgottesdienst vor dem Reichstagsgebäude. Damals kamen 100.000 vor dieses Regierungsgebäude und stellte Kirche dar – mitten in einer säkularen Stadt.Andacht Bundestag Pfarrkonventfahrt Oktober 2011

Evangelische und Katholische – mitten im sich damals (und wahrscheinlich noch heute) wiedervereinigenden Berlin.

In dieser Kulisse waren zwei Losungen zu lesen – und aus entsprechender Fotoperspektive standen diese beiden Sätze nebeneinander: „Dem deutschen Volk“ – der Schriftzug vor dem Reichstagsgebäude. Und dann: „Ihr sollt ein Segen sein“ – die Losung für diesen Abschlussgottesdienst am First der großen Bühne vor dem Reichstag.

 

„Dem deutschen Volk“ und „Gottes Segen für die ganze Welt“. Das sind für mich inspirierende und prägnante Sätze: in ihrer Gegensätzlichkeit, in der Notwendigkeit ihrer Zuordnung und in ihrer Beziehungshaftigkeit.

 

„Dem deutschen Volke“ hat der Architekt des Reichstagsgebäudes Paul Wallot als die Widmung für den 1894 fertiggestellten Neorenaissance-Bau festgelegt. Daraufhin entzündete sich ein Streit um diese Inschrift. Der Berliner Lokal-Anzeiger nannte den Plan „naiv, beinahe komisch“, denn der Bauherr sei das deutsche Volk – sich selbst gewidmet? Als Gegenvorschläge kursierten „„Dem Deutschen Reiche“ und Kaiser Wilhelm II. „Der Deutschen Einigkeit“ vor. 20 Jahre später – erst während des ersten Weltkrieges – wurde der Schriftzug befestigt.

 

Der Schriftzug verdeutlichte mir damals als Gottesdienstbesucher des Kirchentags, dass christliche Existenz immer an einem konkreten Ort stattfindet. Wir kennen diesen Bezug bei den verschiedenen Konzepten der „Volkskirche“, die es durch die Kirchengeschichte gab: Eine Kirche durch das Volk (der partizipatorische Gedanke Friedrich Schleiermachers). Eine Kirche fürs ganze Volk (der diakonische und volksmissionarische Gedanke Johann Hinrich Wicherns). Wir kennen auch die Gefahr des Abgleitens, wenn die Bezugsgröße „Volk“ gegen Teile des eigenen Volkes oder andere Völker gerichtet wird (die völkische Kirche der „Deutschen Christen“).

 

Entsprechend bedarf die Volkskirche, die „dem deutschen Volk“ verpflichtet, einer notwendigen Ergänzung. Dietrich Bonhoeffer hat als Ortsangabe der Kirche formuliert: „Das Revier der Kirche ist die ganze Welt.“ Gottes Segen gilt der ganzen Welt, über die konkrete Ortsangabe hinweg. Kirche ist immer ökumenisch, sowohl im Sinne einer weltweiten Kirche wie einer überkonfessionellen Gemeinschaft.

Sie lässt sich nicht in Kirchenmauern sperren. Kirche ist auch nicht auf geistliche Vollzüge oder Liturgie zu begrenzen: Sie ist – wie die Demokratie dem deutschen Volke verpflichtet ist – beauftragt, sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. Kein Bereich für den Christen, in dem nicht Jesus Christus gehört und Gehorsam geleistet werden kann (Barmen II).

 

Hier in der Reichstagskapelle passiert daher zweierlei: Abgeordnete des deutschen Volkes stellen sich unter den Segen Gottes – Christen stellen sich hier in den Dienst ihres Volkes. In jeder Sitzungswoche läuten über die Hausanlage die Glocken des Kölner Doms und Abgeordnete und Bedienstete treffen sich zur Andacht, wechselweise in evangelischer und katholischer Verantwortung.

 

Dem deutschen Volk – Segen für die ganze Welt: Es bedarf einer Verknüpfung vom dem, wozu der Abgeordnete beauftragt ist („Wohl des deutschen Volkes“) und von dem, was mich persönlich bewegt und welche letzten Beweggründe ich für mein Handeln habe. Der Papst hat’s hier vor zwei Wochen sehr philosophisch ausgedrückt, als er über die Verbindung von Vernunft und Glaube, Recht und Naturrecht sprach.

Evangelisch würden wir’s wohl so sagen: Die Reiche sind zu unterscheiden, aber unbedingt aufeinander zu beziehen: Ohne Weltbezug kann die Kirche nicht ihren Heiland bezeugen, der mitten in diese Welt hineingeboren wurde. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ (Johannes 1,14)

 

Und die Politik? – Ohne den Blick über das von Menschen Verantwortbare hinaus, ohne die Demut, dass Segen immer etwas Geschenkte, etwas Geborgtes ist, ließe sich in meinen Augen schwer regieren.

 

II.

Dennoch frage ich mich: „Dem deutschen Volk“ – hat sich die Ortsanweisung der Politik nicht verändert, im Europa der Rettungsschirme, in der Welt der globalen Zusammenhänge mit Klimakatstrophe und sozialer Frage? In einer multikulturellen Gesellschaft, in der die Politik nicht nur für Deutsche da ist?

 

„Ich will nie ein Nationalist sein, aber ein Patriot wohl. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Wir aber wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, in Europa und in der Welt.“ (Johannes Rau am 23. Mai 1999 nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten.)

 

Diese Losung „Dem deutschen Volk“ bedarf einer Ergänzung, und diese Ergänzung findet sich seit dem Jahr 2000 im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes. Dort ist ein großes Kunstwerk zu sehen, ein großer Kasten, gefüllt mit Kies und Erde, aus dem verschiedene Pflanzen sprießen, und in dessen Mitte der von innen beleuchtete Schriftzug „DER BEVÖLKERUNG“ angebracht ist. Der Künstler hat sich wohl von Brechts inspirieren lassen: „Wer in unserer Zeit Bevölkerung statt Volk […] sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.“

 

Und die Losung „Segen für die ganze Welt“? – Was ist aus den Erwartungen des ÖKT geblieben? – Stehen unsere Kirchen gemeinsam ein für diese Weite des Segens? – Ich erlebe enttäuschte Hoffnungen in der Ökumene – oder noch schlimmer: erst gar keine Erwartungen mehr. Dabei ist Ökumene alles andere als ein Selbstzweck, sondern Auftrag und Wesen der Kirche, gerade weil es um den grenzenlosen Segen geht, der alles Partikulare übersteigt: „Wir sollen eins sein, damit die Welt glaube.“ (Johannes 17,21)

 

III.

Mit dem Bild des feiernden Kirchenvolks vor dem Reichstag verbinden sich für mich viele Hoffnungen und Erwartungen: Ich wünsche mir eine Kirche, die ihre Sprache findet, in einer Welt, in der die partikulare Ortsanweisung nicht mehr so klar und deutlich ist, wie’s an diesem Gebäude dran steht. (Entsprechend ist der Andachtsraum im Reichstag konfessionell nicht festgelegt und offen. Aber genau in dieser Offenheit ist dann ein konkreter Gottesglaube möglich und nötig.)

Ich wünsche mir eine leidenschaftliche grenzenlose Kirche, die offen ist für Gottes Segen und sich dadurch selber verwandeln lässt, anstatt alle Antworten schon zu kennen.

Ich wünsche mir eine Kirche, die an die Orte von Politik und Gesellschaft geht, weil sie von der Wirklichkeit Gottes sprechen kann – mitten unter uns.