„Freiheit“ (Predigtreihe „Grundgesetzartikel“, 2014)

Wären Sie jetzt gerne in Sotschi, Teil der olympischen Idee, dass sich die Jugend der Welt in Frieden und Freiheit begegnet?! Wollten Sie dort ungezwungen Sportfans, vielleicht sogar Sportler anderer Nationen zu treffen?!

Predigtreihe „Grundgesetzartikel“

Wiblingwerde – Altena- Nachroth

„Freiheit“ (Gal 5)

Wollten Sie vielleicht schon immer in eine vielleicht noch unbekannte Gegend wie die russische Schwarzmeer-Region reisen, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in aller Freiheit?! – Es klingt geradezu zynisch mit Blick darauf, wie diese Spiele gesichert werden und wie Sotschi ein Hochsicherheitssektor geworden ist!

 

Die Spiele von München 1972 – sie waren die „Spiele der Freiheit“, obwohl schon damals – anders gelagert –Terrorgefahr bestand. Deutschland war auf das fürchterliche Attentat auf die israelischen Sportler nicht im Geringsten vorbereitet. Das olympische Dorf wurde einst von wenigen Polizisten und einem einfache Zaun bewacht.

 

Heute leben wir im Zeitalter nach dem 11. September 2001, nach den Anschlägen von Madrid (2004) und London (2005). Und die westliche Welt sichert sich so massiv, dass längst die Freiheit, die wir schützen wollen, auf dem Spiel steht: die Freiheit zu reisen (durch Flugdatenabgleiche und ausufernden Sicherheitskontrollen), die Freiheit, neue Kulturen und Länder kennen zu lernen, weil Armut und Gewalt weltweit zunehmen.

Wir sind nicht mehr frei, anzunehmen, dass unsere E-Mails nicht ausgespäht und unsere Telefonate nicht abgehört werden. Und es ist nicht einmal ein Skandal!

 

II.

Für meine (westdeutsche) Generation, die die Enge der 50er- und 60er-Jahre nicht erlebt hat, kann ich nur sagen: Wir haben jahrzehntelang Freiheit wie selbstverständlich hingenommen. Wir haben sie oft nicht gemerkt, so wie man Gesundheit nicht merkt, solange man nicht krank wird. Und nun werden wir an vielen Stellen unfrei und es fehlt oft das Gefühl, wie verletzlich die Freiheit ist…

 

Es ist viel Blut vergossen worden, bis Sätze galten wie dieser „Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte“ (1776 hießt es in den Bill Of Rigths, der Grundrechteerklärung der Vereinigten Staaten von Amerika).

 

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren“, heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, ausgehend von der leidvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs.

 

„Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, steht in Art 2 unseres Grundgesetzes.

 

Aber ich merke: Schon Paulus weiß, dass Freiheit kein Automatismus ist, sondern dem Menschen immer wieder neu zugesprochen und zugemessen werden muss. Es besteht immer die Gefahr, die gewonnene Freiheit wieder einzubüßen: Zur Freiheit hat Christus uns befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Die Gefahr des neuen Jochs ist klar benannt: Nie wieder ein versklavtes Zugtier werden, das auf Stirn oder Nacken sein schweres Gewicht bekommt und vor ein schweres Gefährt gespannt wird! Nie wieder einbüßen, dass der Mensch selbstbestimmt sein soll und den eigenen aufrechten Gang üben soll – das ist schon biblisch das Bild der Freiheit.

 

III.

Nun soll es heute in besonderer Weise um eine Spezialform der Freiheit gehen: die Religionsfreiheit.

 

„Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ (Art. 4,1)

 

Eins sei gleich gesagt: Dass die Religionsfreiheit ein Menschenrecht wurde, ist auch gegen den langen Widerstand der Kirchen durchgefochten worden. Die Kirchen haben sich damit nicht leicht getan. Denn die Religionsfreiheit als Menschenrecht gilt für alle, auch für die Andersgläubigen, selbst für die Nichtgläubigen. Sie schließt ein, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen, ja sogar die Religion zu wechseln. Die Religionsfreiheit ist ein Recht, nicht nur ein moralischer Appell zur Toleranz – ein einklagbares Recht. Sie schließt das Recht ein, vor Religion geschützt zu werden – vor zu lautem Glockengeläut, vor aggressiver Missionierung. Man darf den Religionsunterricht abwählen.

 

Gleichzeitig stimmt es aber auch, dass das Verlangen nach Religionsfreiheit auch aus dem Geist des christlichen Glaubens auch hervorgegangen ist, vor allem auch aus der Reformation:

 

Luther stand 1521 beim Reichstag in Worms vor dem Kaiser und sollte seinen Glauben und seine Lehre widerrufen. Er konnte nicht. Sein Gewissen war frei vor jeglichem Zugriff der Obrigkeit: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

 

Wenn’s um den Glauben geht, kann ihn keine Macht berühren, keine Mehrheitsentscheidung unterbinden. Wenn es um die Wahrheit geht, wirkt im einzelnen Menschen – so hat Luther es für sich in Anspruch genommen –allein der Heilige Geist. Das Gewissen ist von jedem menschlichen und staatlichen Zugriff frei, übrigens auch von jedem kirchlichen Zugriff frei!

 

Die Religionsfreiheit ist – wie jedes Grundrecht – also ein Abwehrrecht gegen den Staat. Das Grundgesetz entstand durch die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus: Nie wieder soll der Staat eine Ideologie oder Lehre oder Weltanschauung vorgeben.

Dem Grundgesetz nach ist der Staat weltanschaulich neutral. Er gönnt sich in der Frage nach der letzten Wahrheit eine Lücke.

 

Der katholische Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den Satz geprägt: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“

Eben weil der Staat des Grundgesetzes weltanschaulich neutral ist und keine bestimmte Religion favorisiert, ermöglicht er uns Freiraum, unsere Religion selber zu leben. Unser Staat verzichtet auf die cura religionis: „Wessen das Land, dessen die Religion“, so lautete einst die Befriedungsformel nach den Konfessionskriegen im 17. Jhd.

Heute gibt der säkulare Staat ausdrücklich Raum für die starken Überzeugungen seiner Bürger, die die Zivilgesellschaft prägen und so das Gemeinwesen tragen. Er ist also kein säkularistischer Staat, der Religion aus der Öffentlichkeit verdrängt, aber er sorgt für Fairness, indem er die Weltanschauungsfreiheit für alle garantiert.

Daher geht der Art 4,2 GG weiter: „Eine ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

 

Wir dürfen uns öffentlich zum Gottesdienst treffen. Viele Christen in anderen Ländern können das nicht.

 

Unsere kirchlichen Schulen und Kindergärten werden sogar öffentlich mitfinanziert, weil der Staat darauf angewiesen ist, dass andere als er selbst Werte vermittelt werden. Auch andere Religionen dürften das.

 

Darum werden wir weiterhin geschätzt für unsere Altenheime und Pflegedienste, weil dort spezifische Werte vermittelt werden, ohne die unser Gemeinwesen ärmer wäre.

 

Daher gehören auch muslimische Vereine nicht in den Hinterhof, sondern sollen ordentliche öffentliche Orte bauen dürfen, an denen sie sich treffen und Andersgläubige zum Dialog einladen.

 

Natürlich stößt die Religionsfreiheit an Schranken und es gibt gesellschaftliche Debatten, wo dann Rechtsgüter abgewogen oder Grundrechte möglichst harmonisiert werden müssen: Religionsfreiheit und Kindeswohl – wie bei der Beschneidungsdebatte. Religionsfreiheit und Schulfrieden – bei der Kopftuch-Debatte. Oder bei uns Christen: Religionsfreiheit und Streikrecht in der Frage, ob die Kirchen ein eigenes Arbeitsrecht haben dürfen. Oder Religionsfreiheit und Erziehung, wenn fromme christliche Eltern aus religiösen Gründen ihre Kinder vom Sexualkundeunterricht freistellen wollen oder gleich selbst den Unterricht übernehmen wollen.

 

Diese Konflikte hält unsere Gesellschaft aus. Ich wünschte mir nur manchmal, dass die, die in diesen Debatten keinen Sinn für Religion haben, sich mehr Mühe machten, Religion zu verstehen, um besser abwägen zu können.

 

IV.

Passt die Religionsfreiheit des Grundgesetzes zu dem, was wir biblisch zur Freiheit sagen können?

 

Die Freiheit, die Paulus im Gal 5 beschreibt, ist dezidiert christliche Freiheit: Sie wird von Christus selber uns zugesagt. Er ist der Urheber aller Freiheit, indem er uns durch sein Leben und Sterben von Schuld und Sünde befreit. Er richtet uns auf aus lauter Gnade, wir müssen kein Joch mehr tragen, keinem irdischen Herren über unseren Glauben Rechenschaft ablegen. In seiner berühmten Freiheitsschrift sagt Luther: „Ich bin ein freier Herr und niemanden Untertan!“

 

Gleichzeitig aber ist die Freiheit in Christus verstanden als Freiheit nicht nur von etwas (Schuld und Sünde), sondern auch zu etwas, genauer zu jemanden hin: Sie zeigt sich in der Liebe und dem Dienst zum Nächsten (Gal 5,13). Luther schreibt entsprechend: „Gleichzeitig bin ich ein dienstbarer Knecht und jedem untertan!“

 

Der Christ hat die Freiheit, von sich weg auf den Nächsten zu schauen. Christus macht mich frei von mir selbst und meiner Selbstbezogenheit: An das Gebot „Liebe deinen Nächsten!“ erinnert Paulus bezeichnenderweise in Gal 5.

 

Damit ist die christliche Freiheit etwas anderes als die Freiheit, wo es um allein um die Autonomie des Individuums. Oder um die Freiheit, die rein materiell verstanden wird als die Freiheit, Eigentum anzuhäufen. Eine solche Freiheit würde lediglich dort an ihre Grenzen kommen, wo sie die Freiheit anderer berühren würde, quasi einen Freiraum abstecken, wie mit einem Zaun begrenzt an der Stelle, wo die vermeintliche Freiheit des anderen beginnt.

 

Christliche Freiheit besteht aber in der Beziehung zum Nächsten, ist ein Kommunikationsgeschehen. Der andere Mensch, dem ich begegne, ist nicht die Schranke meiner Freiheit, sondern ihre Ergänzung und Ermöglichung. Ich brauche ihn.

 

Christliche Freiheit besteht im Überschreiten und Einreißen aller Zäume, gerade derer Zäune, die im Namen der Freiheit vor dem Nächsten gezogen worden sind!

 

Christliche Freiheit wird sogar die Angst überwinden, dass mein Nächster anders sein oder glauben könnte als ich. Und ich werde ihm als Mensch, als Nächsten begegnen, nicht als Konkurrent, sondern als Gesprächspartner.

 

Das passt zur Religionsfreiheit des Grundgesetzes, aus dem Privaten herauszutreten und den Gemeinsinn mitzuformen. Wir können über alle Unterschiede hinweg das soziale, kulturelle und politische Leben mitgestalten. Wir Religiöse – verschiedener Strömungen und Religionen – haben da sogar eine besondere Verantwortung, aber auch besondere Möglichkeiten, weil wir bestensfalls um unsere eigenen Standpunkte gut Bescheid wissen.

 

Wir würden aus unserem Glauben heraus Verständigung mit Menschen suchen können. Dies wäre ein Ausdruck christlicher Freiheit – und vielleicht auch ein kleiner Beitrag, dass dieser Welt wieder freier wird von Kontrolle, Überwachung, Terror und Misstrauen über Kontinente und Religionsgrenzen hinweg.

 

Ist das naiv, gerade auch vor dem Hintergrund, dass im Namen der Religion auch heute wieder Gewalt geübt wird? – Oder ist es so die einzige Form der Freiheit, die wirklich trägt?