Christus, der ist mein Leben (Ansprache zur Kantate)

So bin ich willig und bereit, / Den armen Leib, die abgezehrten Glieder, / Das Kleid der Sterblichkeit / Der Erde wieder
In ihren Schoß zu bringen. /
Mein Sterbelied ist schon gemacht, ach dürfte ich’s heute schon singen!

Predigt – Kantate „Christus, der ist mein Leben

Lutherkirche – Okuli 2013

 

Liebe Gemeinde,

wer kann so singen? Wer ist bereit? Ich liebe das Leben zu sehr – und ich hoffe, dass ich es lange lieben kann, um nicht eine solche Todessehnsucht zu entwickeln. Dafür liebe ich die Welt auch zu sehr … – Dafür tabuieren wir den Tod doch auch viel zu sehr, oder?

Ach könnte mir doch bald so wohl geschehen,
Dass ich den Tod,
Das Ende aller Not,
in meinen Gliedern könnte sehn;

So ähnlich sprechen sehr wohl Menschen, etwa diejenigen, die sich in Obhut der Schweizer Sterbeorganisation „Exit“ begeben. Immer wieder zur dunklen Jahreszeiten berichten die Medien über das selbst-organisierte Lebensende, oder wenn ein prominenter Mensch so aus dem Leben scheidet: der Fußballer Timo Koniezka, der an einer irreversiblen Krebserkrankung litt. Der Playboy Günther Sachs, der sich im Frühstadium einer Demenz das Leben nahm.

Lieber Sterben als ein Leben mit einer Erkrankung. Oder jenseits des bisherigen heilen Lebens. Kommen die Gedanken der Todessehnsucht und der Weltflucht nicht der Aussage des Eingangschores der Kantate sehr nahe?

Oberflächlich betrachtet ist das so. Oberflächlich betrachtet könnten wir viele Gedanken der Kantate Selbstmord-Willigen in den Mund legen.

Beim zweiten Blick aber müssten wir schon Johann Sebastian Bach unterstellen, ebenfalls zu den Menschen zu gehören, die nicht mehr wollen oder nicht mehr können.

1723, als die Kantate zum ersten Mal aufgeführt wurde, war Johann Sebastian Bach 38 Jahre alt und hatte gerade sein neues Amt als Thomaskantor in Leipzig angetreten. Sollte er da schon so lebensmüde gewesen sein, dass er entschlossen der Welt den Rücken kehren will?

Ich finde: Hinter der Todessehnsucht der Kantate verbirgt sich eine ganz andere Sicht als die, die wir schnell mit dem Etikett „Weltflucht“ versehen, ohne genauer zu überlegen, was eigentlich Sinn und Zweck dieser Jenseitsperspektive ist.

Unstrittig ist, dass die Kantate einen distanziert anmutenden Blick auf die Welt wirft:
Nun falsche Welt!
Nun hab ich weiter nichts mit dir zu tun
Ein solcher Rückzug aus der Wirklichkeit ist uns durchaus vertraut, wenn wir daran denken, wie viele Menschen sich zurückziehen, weil ihnen die Welt unübersichtlich geworden ist, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr vorzukommen oder gebraucht zu werden: „Wollustsalz“ und „Sodomsäpfel“ – so beschreibt die Kantate in alten Worte die Entfremdung des Lebens.

Doch im Gegensatz zu denen, die heute der bösen, falschen Welt „Valet“ sagen, also sich still und unauffällig verabschieden ohne jede Aussicht auf eine Existenz hinter dem Tod, wird in der Kantate von Anfang an ein anderer Ton angeschlagen:
Christus, der ist mein Leben,
Sterben ist mein Gewinn.

Der Tod ist nicht die Mauer, an der das Leben zerschellt. Der Tod wird vielmehr als Durchgangsstadium angesehen, wie eine Tür zwischen dem Leben hier und dort, und:
Der Tod ist mein Schlaf worden. (Schluss des Eingangschors)

Und nach dem Schlaf folgt das Entscheidende: der neue Morgen, das Aufwachen, das Verlassen des Grabes, das neue Leben. Mit einer lebendigen, immer neu überraschenden musikalischen Farbigkeit verdeutlicht Bach: Wer als Christ/als Christin das eigene Sterben in Augenschein nimmt, der kapituliert nicht vor dem Tod. Vielmehr schaut er hinter die Kulissen dieser Welt und des eigenen Lebens und entdeckt die neuen Ansichten, ja geradezu neue Aussichten, die uns durch Jesus, den Christus, eröffnet werden. Dass lässt unser irdisches Daseins in einem neuen Licht erscheinen: Es geht also nicht um Todessehnsucht in einer augenscheinlich schlechten Welt, sondern um die Himmelssehnsucht, um die Vorfreude, was da noch auf uns wartet.

Wer diesen Gedanken mitgeht, wer dieses Gottvertrauen wagt, der vermag wohl die Wand zu durchstoßen, an der die scheitern, die nur ein trauriges Nichts erwarten, die den „Exit“ suchen ohne neuen Eingang, der Abschied ohne einen Neuanfang.

Gott segnet unseren Ausgang (aus diesem Leben) – und aber eben auch unseren Eingang (in das neue ewige Leben) – von nun an bis in Ewigkeit (Ps 121):

Wer aber Gott hofft, der vermag in zweifacher Weise zu neuer Hoffnung gelangen:
• Zum einen muss er nicht alles auf dieser Erde in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod erreichen. Er muss nicht die Haltung haben, dass – wenn es mir versagt bleibt im irdischen Leben, dass ich einfach aussteige).
• Zum andern aber bestimmen jetzt schon die Aussichten Jesu mein Leben hier auf Erden und verleihen meinem Tun und Lassen Sinn und eine Richtung, einen Kompass. So wird aus der vermeintlichen Weltflucht eine Weltverantwortung und aus der Todessehnsucht entwickelt sich eine neue Lebensbejahung.

Es ist ein großes Missverständnis, wenn die Jenseitsperspektive des Glaubens immer wieder als billige Vertröstung begriffen wird, mit der Missstände auf Erden beschönigt werden. Nein: Der Blick vom Jenseits auf das Diesseits verleihen uns Menschen Trost, Kraft und Stärkung, sich nicht mit dem Tod und seiner Macht abzufinden.

Jenseitshoffnung bedeutet: Leben nach dem Plan Gottes im Hier und Jetzt. Denken wir noch einmal an den biblischen Hintergrund der Kantate (Die Auferweckung des Jüngling zu Nain, Lukas 7,11-16): dort bewegt sich der Trauerzug auf den Abgrund des Grabes zu. Doch bevor das Grab erreicht wird, kreuzt Jesus den Weg der Trauernden und ruft den Toten, ruft uns zu „Steh auf!“. Das ist der „Exit“ des Glaubens und der Eingang des Glaubens in ein neues Leben, so wie es im der Kantate heißt:
Dein letztes Wort mein Auffahrt ist,
Todesfurcht kannst du vertreiben. Denn wo du bist, da komm ich hin, dass ich stets bei dir leb und bin / drum fah ich hin mit Freuden!

Amen.