Reformation und 20 Jahre Friedliche Revolution (Textcollage, Reoformationsfest 2009)

„Re-formation in fünf Akten“ – Gottesdienst am Reformationstag 2009: Wir haben Gottes Spuren festgestellt – haben wir? – Luther-Kirche Altena

  1. UNFREI SEIN

 

Gemeinde: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, WL 85

 

Mose: Friede! Freiheit! Hoffnung! Ja! Ich, Mose, und mein ganzes Volk Israel wünschen uns das. Wir fühlen uns hier in Ägypten unfrei. Sie machen uns das Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und Ziegel und mit mancherlei Frondiensten auf dem Felde, mit all ihrer Arbeit, die sie uns auflegen ohne Erbarmen. Das Joch der Knechtschaft ablegen – das wär’s. Aber wie? Da wohnt ein Sehnen tief in uns… Wie siehst Du das, Martin Luther?

 

Luther: Friede, Freiheit, Hoffnung … Ja, das wünsche ich mir. Friede mit meiner Kirche, die mit ihren Ablassbriefen eine unglaubliche Macht ausübt, aber doch meine Heimat ist! Die die Menschen derzeit völlig unnötig in Angst und Schrecken versetzt. Auch mich! Nichts ist bedrängender und schlimmer als die Befürchtung, im Fegefeuer zu schmoren. Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? – Ich sehne mich nach Befreiung!

 

„Ossi“: Heute ist Friedensgebet in Leipzig, Nikolaikirche. Ich bin da. In mein Tagebuch zu Hause habe ich geschrieben:

„Montag, 9. Oktober: Heute morgen war die noch halb geschlossene Blüte von meinem Hibiskus abgefallen. Ich war nahe dran, darin ein schlechtes Vorzeichen zu sehen. Was sollte das für ein Tag in Leipzig werden? Den ganzen Vormittag über konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, keine vernünftige Arbeit tun. Jeder redete über das, was heute abend geschehen würde. Der angedrohte Gebrauch von Waffengewalt hat in mir Bilder aus China wieder wachgerufen. Ich habe gebetet, dass der Abend unblutig vorbeigehen möge.“

Jetzt, in der Kirche, wird gebetet. Aber die Rufe derer, die vor der Kirche stehen, jagen mir kalte Schauer über den Rücken. Obwohl kurz vorher die Aufrufe zur Besonnenheit und Gewaltfreiheit verlesen worden sind.

Freiheit – gibt’s nur in dieser Stunde nur in der Kirche – aber immerhin in der Kirche. Hoffnung auf Veränderung? – Hauptsache, es wird nicht geschossen!

 

 

„Ich“

Da wohnt ein Sehnen tief in uns – heute. Ja, auch bei uns. Womöglich müssen wir heute genauer hinschauen, wo wir „unfrei“ sind – in einer Welt, die alle Freiheiten proklamiert, in der alles möglich ist. Wir sind nicht unfreie Sklaven in Ägypten, auch nicht Bevormundete im Glauben. Keine Eingesperrten im eigenen Land. Aber: In den letzten Monaten merken wir: Wir brauchen plötzlich für unsere Freiheit Schutzschilder und Rettungsschirme. Der freie Markt braucht plötzlich Konjunkturprogramme und die Menschen mehr denn je Sicherungssysteme. Frei-zügig im Umgang mit natürlichen Ressourcen, dem Klima, der Umwelt können wir schon lange nicht mehr sein.

Re-form-ulieren wir für uns, was uns unfrei macht.

 

Chor: Ein langer Weg, Fundstücke 104

 

 

  1. AUFBRUCH

 

Mose: Lange Zeit aber danach starb der König von Ägypten. Und die Israeliten seufzten über ihre Knechtschaft und schrieen, und ihr Schreien über ihre Knechtschaft kam vor Gott. Und Gott erhörte ihr Wehklagen und gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Und Gott sah auf die Israeliten und nahm sich ihrer an.

Und alle Israeliten taten, wie der Herr es mir, dem Mose, und Aaron, geboten hatten. An diesem Tage führte der Herr die Israeliten aus Ägyptenland. Schar um Schar.

Worte aus dem 2. Buch Mose.

 

„Ossi“:

„Sind wir wach oder träumen wir das nur alles? So hat sich mancher von uns voller Staunen gefragt. In diesen Tagen ist so viel geschehen. Unerwartetes. Unvergleichliches, dass es uns schier die Sprache verschlug.“

So beginnt die Predigt von Pfarrer Führer in Leipzig. Montagsgebet am 13. November, vier Tage nach dem Mauerfall. Wie der letzte große Stein in einer Dominokette, die in Ungarn begann: Der Stacheldraht des eisernen Vorhangs wird zerschnitten – von Grenzsoldaten.

„Ich bin heute zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ist Ihre Ausreise … Jubel!“ –

Und dann vor wenigen Tagen löst das Gestammel eines schlecht informierten SED-Funktionär Weltgeschichte aus:

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. … Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort und unverzüglich.“

Wahnsinn! – Das Wort der Nacht, als ein ganzes Volk aufzubrechen scheint…

Wie viel Angst mussten wir vorher überwinden: am 9. Oktober, als wir nur mit einer Kerze „bewaffnet“ heraustraten auf den Nikolaihof, direkt vor die bewaffneten Polizisten. Und wie die Kerzen, das Symbol des Friedens und der Gewaltlosigkeit, die Herrschenden „entwaffnete“. Mit allem hatten sie gerechnet: Nur nicht, dass sie mit Kerzen kommen…

Welche Hoffnungen verknüpften sich an diesen Aufbruch: dass sich endlich ´was ändert in der DDR?! Dass sich unsere Haltung „Wir bleiben hier“ doch gelohnt hat?!

 

Chor: Über Zäune hinweg, WL 88

 

Luther:

Ich habe den gnädigen Gott gefunden! Endlich! – Aber nicht in den Heilsmitteln der Kirche, nicht in meinem ständigen Mühen und Selbstkasteien. Nicht in der irren Annahme, dass „wenn die Münze im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“.

Der gnädige Gott – ich habe ihn dort gefunden, wo man eigentlich als erstes nachschauen sollte: im Zeugnis der Heiligen Schrift. Und in ihrer Mitte: in Jesus Christus, mit dem Gott der Welt Gnade hat zuteil werden lassen. Unverdient. Aus purer Liebe. Alles, was ich aufbringen muss, ist das Vertrauen, dass Gott es gnädig mit mir meint.

Wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. Aber: Wir werden ohne Verdienst gerecht: aus seiner Gnade, durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.

Worte aus dem Römerbrief des Paulus! Eine Befreiung. Ein Auszug aus meiner tiefsten Seelenpein. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen!

 

„Ich“

Freiheit – Dienstbarkeit?! –Das Rote Meer hinter sich lassen. Mauern überwinden?!

 

Irgendwie vermischt sich heute doch der notwendige Ernst, die Freiheit zu ergreifen und zu erträumen, mit dem Sarkasmus, auf der Titanic bis zum Untergang noch weiterzutanzen. Marius Müller-Westernhagen singt:

 

Alle die von Freiheit träumen
sollten’s Feiern nicht versäumen
sollen tanzen auch auf Gräbern
Freiheit. Freiheit

 

Doch, lieber Luther, lieber Mose, lieber Landsmann: Was wäre gewesen, wenn Ihr nicht das Fenster zu Himmel offen gehalten hättet? Wenn ihr nicht an den Aufbruch geglaubt hättet? Und konkret im Kleinen begonnen hättet, Freiheiten zu ergreifen, um dann den große Moment der Freiheit geschenkt zu bekommen?

Halten wir das Fenster zum Himmel offen. Gott kommt uns heute genauso entgegen wie einst!

 

Gemeinde: Ein Fenster zum Himmel, WL 84

 

 

  1. ANGST

 

„Ich“

Die Schöpfung lebt im Fall. Im Rückfall.

Nach dem Aufbruch ist vor dem Einbruch.

Das ist leider Realität, dass gerade kurz nach dem Aufbruch die Angst kommt. Fast wie die Angst vor der eigenen Courage.

Ein Text von Nelson Mandela:

 

Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht,

dass wir den Anforderungen nicht gewachsen sind.

Unsere tiefgreifendste Angst ist,

dass unsere Kraft jedes Maß übersteigt.

 

Unser Licht, nicht unsere Dunkelheit

macht uns am meisten Angst.

Wir fragen uns, wie kann ich es wagen,

brillant, hinreißend, talentiert und

fabelhaft zu sein?

 

Doch in der Tat, wie kannst du es wagen,

dies alles nicht zu sein?

 

Du bist ein Kind Gottes.

Wenn du dich klein machst,

erweist du damit der Welt keinen Dienst.

Es ist nichts Erleuchtetes daran, dich zu ducken,

damit sich andere Leute in deiner Gegenwart nicht unsicher fühlen.

 

Wir sind geboren worden, um den Glanz

Gottes, der in uns ist, zu verwirklichen.

Und er ist nicht nur in einigen von uns; / er ist in jedem Menschen.

 

Und wenn wir unser eigenes Licht strahlen lassen

geben wir unbewusst den anderen Menschen

die Erlaubnis, dasselbe zu tun.

Wenn wir uns von unserer eigenen Angst

befreit haben,

befreit unsere Gegenwart automatisch auch andere.“

 

„Ossi“:

Plötzlich hatten wir das Schicksal in der eigenen Hand! Runde Tische statt Zentralräte. Meinungsfreiheit. Aber auch: Machtvakuum. Was hatten wir da losgetreten? Ist eine andere DDR überhaupt möglich?

Leonardo das Vinci sagt:

„Wer immer nur Autoritäten zitiert, macht zwar von seinem Gedächtnis Gebrauch, aber nicht von seinem Verstand.“

 

Luther:

Auch bei mir kam die Angst: Sollen wir das jetzt wirklich durchziehen, den Bruch mit Rom? Eine eigene Kirche? Das hatte ich nicht gewollt. Eine andere Kirche ja – aber keine eigene!

Und dann die Angst: Gibt es gar Krieg um den Glauben? Ist es das alles wert?

Komm, Gott, mit deiner Gnade in gnadenlose Zeit!

 

Gemeinde: Komm, Gott, mit deiner Gnade (Mel.: Lobt Gott getrost mit Singen), WL 108

 

Mose: Und es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten gegen mich, Mose, und Aaron in der Wüste. 3 Und sie sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasst.

Aber Gott sprach zu mir: Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden. Und so geschah es:

Im Nachhinein kann ich nur sagen: Gott sei Dank, Halleluja!

 

Chor: Celtic Halleluja, WL 102

 

 

  1. GOLDENES KALB

 

Mose: Ins Halleluja hinein schon wieder ein Rückschlag beim langen Weg ins gelobte Land. Weil sich Gott am Berg Sinai nicht blicken ließ, hat mein Volk ihn sich selber gemacht. Ungeduldig, ängstlich, unsicher. Der Tanz ums goldene Kalb – auch eine Etappe, wenn man Re-formation macht…

 

[zu Luther:] Du, lieber Luther, bist zeitweilig auch so fanatisch geworden: Du hast die Rechtfertigung des Sünders verengt auf einen individuellen Seelenprozess. Dabei steckt in Rechtfertigung doch auch „Recht“-Verschaffen drin: Befreiung der Armen und Unterdrückten. Beim Bauernkrieg standest du aber klar auf der Seite der Obrigkeit. Und: Am Lebensende eifertest du unnachgiebig gegen die Juden.

 

Luther [zum „Ossi“]

Er aber ganz genauso: Schreit erst „Wir sind das Volk“ – und dann kurz später „Wir sind ein Volk“. Wir wollen die D-Mark. Den goldenen Westen, der genauso gold schimmerte wie das goldene Kalb.

Und ganz nebenbei: Warum wurden die Kirchen nach der Wende wieder so leer wie vorher?

 

„Ossi“: Weiß ich nicht!

[zu Mose]: Du hättest übrigens nicht so lange wegbleiben müssen auf dem Berg Sinai. Wundert mich nicht, dass das Volk ohne Anführer aufmüpfig wurde.

[zu Ich:] Und ich hätte auch nicht gedacht, dass der Sozialismus so marode ist, aber schon wenige Jahre später der „siegreiche“ Kapitalismus auch nur durch Staatseingriffe am Leben erhalten wird. Ich dachte, das hätte ich hinter mir gelassen …

 

„Ich“

Der Stier vor der Frankfurter Börse als Sinnbild für das Goldene Kalb unserer Zeit? – Ich kann nicht widersprechen. – Eigentlich wussten wir schon lange, dass da mal eine Spekulationsblase platzt. Und wir haben ja auch versucht, die Stellschrauben und die …

 

Luther:

Wissen und Wollen, mein Freund, ist das eine.

Johann Wolfgang von Goethe wird 350 Jahre nach mir sagen:

Es ist nicht genug zu wissen

Man muss es auch anwenden

Es ist nicht genug zu wollen

Man muss es auch tun.

 

Mose: Wie auch immer. Wir sind weiter gezogen. Durch die Krise. Weil Gott uns Leben verheißen hat – Mitten in der Wüste. Weil wir übrigens auch Regeln an die Hand bekamen, zehn große Regeln für die Freiheit, um weiterzuziehen und gemeinsam anzukommen.

 

„Ossi“: Bei allen Rückschlägen: Auch wir haben daran festgehalten, dass Gott uns entgegen kommt auf unseren Wegen. Gott will, dass wir ein Segen sind – und er leitet und begleitet uns dazu.

Ein Lied vom thüringischen Theologieprofessor Klaus Peter Hertzsch hat ganz zum Schluss noch seinen Weg ins neue Ev. Gesangbuch gefunden. Es war als Hochzeitslied gedacht. Aber wenn man 1989 so dichtet, dann ist es weit mehr. Ein Reformationslied, ein Revolutionslied im besten Sinne: „Vertraut den neuen Wegen!“

 

Gemeinde: Vertraut den neuen Wegen

  1. VERHEIßENES LAND

 

Mose: Ich habe das verheißene Land noch gesehen. Dass Verheißene Land einzunehmen, das hat meinem Nachfolger Josua ganz neue Probleme geschaffen. Aber hier waren wir am Punkt, wo Tränen und Weinen vorbei waren – für einen Moment.

 

Luther: Das Neue ist da, gibt uns neue Kraft – ja, auch wenn nach mir das Neue, die Reformation, durch alle Jahrhunderte immer wieder re-formiert werden musste. Es hat sich etwas geändert!

 

„Ossi“: Die drohenden Fäuste sind nicht mehr geballt. Wir haben vor 20 Jahren den Grundstein gelegt, dass sich dieses Volk in Freiheit und Selbstbestimmung vereint hat. Ein Geschenk des Himmels – bei allen Problemen!

 

Chor: Vorbei sind die Tränen, WL 116

 

„Ich“: Was ist uns aufgegeben? Was ist uns verheißen? Wo warten unsere Aufbrüche und Neuanfänge?

Himmel und Erde berühren sich auch heute.

Ein schon weihnachtliches Bild.

Oft müssen wir uns nur genau umschauen.

 

Eins ist mir ganz groß geworden: menschlicher Mut, menschliche Stärke werden groß durch den Glauben an Gott und die Zuversicht, die wir daraus schöpfen können.

Der Gottesdienst bewegt mein Herz jetzt und bestimmt in zukünftigen Tagen.

 

Das hat jemand ins Gästebuch der Leipziger Nikolaikirche geschrieben. Vor gut einem Jahr. Am 9.10.08.