„Angst und Vertrauen“ [Überschrift der EG-Rubrik]: das ist das Thema in der Passionszeit: das Pendeln zwischen Angst und Vertrauen, zwischen Lebenszweifeln und Lebensmut. Zwischen Aufgeben wollen und Weiterleben wollen. Sicher für Christen auch die Frage danach, ob Gott da ist oder nicht.
Predigt – Kreuzkapelle Hohenlimburg/Kalthof
Passionszeit 2007, Liedpredigt EG 361
Die Passionszeit ist daher für mich nicht eine Zeit der „kollektiven Depression“, in der wir alle ganz traurig sein müssen, auch keine Zeit der Selbstkasteiung (sieben Wochen ohne was auch immer), um dann ab Ostern wieder fröhlich über die Stränge zu schlagen.
Sondern: Die Passionszeit ist „reservierte Zeit“: zum persönlichen Nachdenken über das, was unser „Herzen kränkt“ (EG 361,1). Was uns „sorgt und grämt“ (EG 361,2). Wie ich mit meinem Leben umgehen möchte und wie ich sinnvoller Weise meine Lebenszeit hier nutzen möchte.
Und wenn es mir persönlich gerade gut geht: Dann erst recht ist die Passionszeit reservierte Zeit, um mich in meine Mitmenschen einzufühlen: Wem krankt das Herz? Und warum? Wer neigt gerade dazu, das Leben eher aufzugeben als weiterleben zu wollen, und wie lenken wir als Kirche den Blick auf diese Menschen? – Insofern ist die Passionszeit eine besonders diakonische und politische Zeit der Kirche.
II.
Mit „Befiehl Du deine Wege“ versucht der Liederdichter Paul Gerhardt, sein „Pendeln“ zwischen „Angst und Vertrauen“ zu beschreiben. Wir singen nochmals die 1. Strophe.
- Befiehl du deine Wege / und was dein Herze kränkt / der allertreusten Pflege / des, der den Himmel lenkt. / Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.
- a) Ich bleibe gleich am ersten Wort hängen: „Befiehl“ Hier ist die Bewegung aber genau andersherum gemeint als bei einem „Befehl“, der von außen kommt: Hier geht es darum, dass ich mein Leben anbefehlen:
„In deine Hände befehle ich meinen Geist, Du hast mich erlöst, du treuer Gott“ (Ps 31), lauten Jesu letzte Worte am Kreuz nach dem LkEv.
„Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen!“ (Ps 37,5) Das ist das Psalmwort, das dem Lied zu Grunde liegt: Der Vers ergibt sich aus den jeweils ersten Worten jeder Strophe (Akrostichon).
Es geht also darum, sich ganz Gott zu überlassen, dass ich mein ganzes Leben – v.a. was einen kränkt und zweifeln lässt – Gott anvertraue.
- b) Befiel Du deine Wege: Ich denke heute an offene Lebenskreuzungen: die Frage, wo ich Arbeit finde; ob ich eine Familie gründen will, in welchem Land ich leben möchte – noch nie hatten die meisten von uns eine solche große Wahlfreiheit, aber gleichsam auch eine so große Ungewissheit. Wohin gehen meine Wege?
– Befiel Du deine Wege: Ich denke an schwierige Lebenswege, die sich plötzlich auftun: Nach einer Diagnose. Nach einer Kündigung. Nach dem Scheitern in der Schule: Welche Wege bleiben dann in unserer Gesellschaft?
– schließlich: das Ende des eigenen Lebensweges: Befiel Du deine Wege ist das Bestattungslied, im Vertrauen, dass Gott auch unseren letzten Weg mitgeht – und darüber hinaus!
Diese Wege – können uns sollen wir Gott anvertrauen!
Und Paul Gerhardt argumentiert, warum es so ist: Gott der Schöpfer hat doch alles wunderbar geschaffen hat: Der „Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen mag“!
Nach der Sinnflut hat Gott versprochen, dass der Lauf dieser Welt, dass Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, nicht aufhören sollen! Der Schöpfer lässt seine Geschöpfe nicht aus dem Blick.
[c) Dem Herrn trauen] Ganz im Sinne der reformatorischen Theologie nennt Gerhardt zu Beginn der zweiten Strophe, was uns allein und zu allererst geboten ist: Dem Herrn trauen, ihm glauben.
Es geht nicht um das Für-Wahr-Halten von Glaubensinhalte, sondern um die persönliche Beziehung zu Gott: Das griechische Wort für Glauben meint zu allererst „Vertrauens“: Gerade im Sinne Jesu geht es nicht so sehr um ein „ich glaube an Gott, den Vater“, sondern um das Vertrauen „Ich glaube Gott“. Ich traue ihm, dass er hält, was er versprochen hat: für uns da zu sein.
Wir singen die 2. Strophe:
- Dem Herren mußt du trauen, / wenn dir’s soll wohlergehn; / auf sein Werk mußt du schauen, / wenn dein Werk soll bestehn. / Mit Sorgen und mit Grämen / und mit selbsteigner Pein / läßt Gott sich gar nichts nehmen, / es muß erbeten sein.
III.
Solches Gottvertrauen weckt natürlich Widerspruch: Wir sind es heute gewohnt, möglichst autonom zu sein, uns selbst zu trauen und unseren Fähigkeiten. Und: Möglichst keine radikalen persönlichen Bindungen eingehen oder sich gar „anbezufehlen“.
Kein Geringerer als Berthold Brecht hat den Versuch unternommen, in der Imitation auf Paul Gerhardt dessen Gottvertrauen zu überbieten durch das Vertrauen des Menschen auf sich selbst. 1920 dichtete er:
Es kann dir nichts geschehen / Solang du nicht entfliehst /
Im Guten wie im Wehen / Den gleichen Himmel siehst
Und Wolken, Luft und Winden / Hast du ja nichts getan /
Es wird sich niemand finden / Der dich verstoßen kann.
Ähnlich könnten es die Menschen heute sagen:
– Wer sich keinem Gott anbefiehlt, geht nicht das Risiko ein, sich einmal für sein Leben rechtfertigen zu müssen.
– Besser, es baut sich jeder seinen eigenen Himmel und hängt sein Herz an Geld, Prestigeobjekte wie Villen, Autos -, aber eine persönliche Beziehung zu einem personalen Gott, dem in diesem Lied eine ganze Reihe menschlicher Attribute gegeben werden?
Mich fasziniert bei Paul Gerhardt, dessen 400. Geburtstag wir feiern, wie sehr er sich Gott in die Arme wirft – gerade weil er die Lebenserfahrung gemacht hat, dass man mit den eigenen Fähigkeiten und dem Vertrauen auf sich an bestimmten Punkten des Lebens nicht mehr weiterkommt.
Er schreibt dieses Lied 1653, wenige Jahre nach dem 30jährigen Krieg. Deutschland liegt in Trümmern. Ganze Landstriche sind entvölkert und verwüstet. Hunger und Epidemien raffen die Menschen hin.
Wenige Jahre später wird er vier seiner fünf Kinder zu Grabe tragen müssen, nach nur 13 Jahren Ehe stirbt seine Frau. Aber genau das ist der Grund für seine so persönliche Sprache, für das Ringen in den seinen Liedern, die unergründliche und verborgene Liebe Gottes gerade auch in seinem Leben zu spüren.
„O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn“ – so wie er den leidenden Jesus am Kreuze beschreibt, so hat er selbst erlebt, wie ihn der „Kummer plagt“ (EG 361,6) und wie der Wunsch, quasi der Schrei entsteht: „Lass fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht!“ (EG 361,7)
Dieser Schrei kennt bei ihm nur eine Adresse: Gott. Denn Gott-Vater, der durch den Tod seines Sohnes Leid und Entbehrung am eigenen Leibe erfahren hat, kennt’s – und wird daher zur Adresse in den Passionszeiten unseres Lebens.
IV.
Die weiteren Strophen erheben sich nicht von ungefähr zu einem innigen Gebet. Denn das Gebet ist der Schritt, nicht im Selbstmitleid zu versinken. Es ist das Gegenteil von „Grämen“ (EG 361,2), vom verengten Blick auf sich selbst und auf die Traurigkeit, die entsteht, wenn jemand in sich selbst und in seiner Trauer gefangen ist.
Das Gebet, so wie es hier erklingt, wird zum aktiven Schritt, um Einfluss zu Nehmen auf Gott und die Welt: Dass er das Leid wende.
Wir singen die Strophen 6 bis 8.
- Hoff, o du arme Seele, / hoff und sei unverzagt! / Gott wird dich aus der Höhle, / da dich der Kummer plagt, / mit großen Gnaden rücken; / erwarte nur die Zeit, / so wirst du schon erblicken / die Sonn der schönsten Freud. /
- Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht, / laß fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; / bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll, / Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl.
- Ihn, ihn laß tun und walten, / er ist ein weiser Fürst / und wird sich so verhalten, / daß du dich wundern wirst, / wenn er, wie ihm gebühret, / mit wunderbarem Rat / das Werk hinausgeführet, / das dich bekümmert hat.
V.
Vielen Menschen in vielen Jahrhunderten sind diese Zeilen zum Trost geworden. Die Verse selbst sind zu Gebeten geworden. Dietrich Bonhoeffer etwa schrieb 1943 aus der Gefängniszelle an seine Familie:
„Verzeiht, dass ich euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin ich diesmal weniger ich als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul Gerhardts Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue.“
Und ein Jahr später, nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, gesteht Bonhoeffer: Es kommen „Stunden, in dennen man sich mit den unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen genügen lässt. Dann freut man sich ganz einfach an der Losung des Tages … und man kehrt zu den schönen Paul-Gerhardt-Liedern zurück und ist froh über diesen Besitz.“
In den Gerhardt-Liedern schwingt das Pedel zwischen „Angst und Vertrauen“ zum Vertrauen, ohne die Angst wegzuzaubern. Im gleichen Jahr, immer noch in den Nachkriegswirren, dichtet er: „Geh aus, mein Herz, / und suche Freud / In dieser lieben Sommerzeit / An deines Gottes Gaben; / Schau an der schönen Gärten Zier / Und siehe, wie sie mir und dir / sich ausgeschmücket haben.“
Keine Zeilen eines weltfremden Traumtänzers, kein blanker Zynismus nach dem Motto „Hurra, wir leben noch“! Ssondern, so empfinde ich es: die Hoffnung auf einen Gott, der den Menschen zwar kein irdisches Leid erspart, sie aber letztlich erlöst.
Genauso sind die Strophen 11 und 12 getextet: Gott gibt uns Freudenlieder auf unsere Zungen (EG 361,11), er macht ein Ende mit unserer Not und „so gehen wir gewiß zum Himmel ein“ (EG 361,12). Beileibe keine Vertröstung ins Jenseits. Es ist keineswegs so formuliert, als ob alles Böse erst am Ende der Tage sich in Gutes verwandelt. Sondern Gegenwart und Zukunft fließen ineinander. Hier fällt schon ein erster Lichtstrahl des Ostermorgens in die Passionszeit. Denn auch Ostern ist nichts Jenseitiges, sondern der Einbruch Gottes in unser Leben hier und jetzt – Gottes Aufstand gegen den Tod.
Deshalb zum Schlus: die Strophen 11 und 12:
- Wohl dir, du Kind der Treue, / du hast und trägst davon / mit Ruhm und Dankgeschreie / den Sieg und Ehrenkron; / Gott gibt dir selbst die Palmen / in deine rechte Hand, / und du singst Freudenpsalmen / dem, der dein Leid gewandt. /
- Mach End, o Herr, mach Ende / mit aller unsrer Not; / stärk unsre Füß und Hände / und laß bis in den Tod / uns allzeit deiner Pflege / und Treu empfohlen sein, / so gehen unsre Wege / gewiß zum Himmel ein.