Mitten in der Fußgängerzone im Wuppertaler Stadtteil Barmen-Gemarke steht auf einem Sockel eine Menschenmenge, dicht gedrängt, auf Tuchfühlung. Sie bilden keinen Kreis, eher Reihen. Wenige sind einander zugewandt. Kaum einer schaut zur Seite. Was ist das? Eine Masse, eine Gemeinschaft?
Pfingstsonntag Lutherkirche Altena
75 Jahre Barmer Theologische Erklärung
Die Gruppe wirkt geschlossen. Ausscheren – schwer denkbar! Trotz unterschiedlicher Größe, Kopfbedeckung, unterschiedlichen Alters und Geschlechtes wirken die Personen uniformiert: die Füße parallel, nebeneinander, den rechten Arm erhoben. Wohl keine Segenshaltung, sondern Erinnerungen an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Wenn diese Menschenmasse in Bewegung gerät – dann marschiert sie.
Auf dem zweiten Blick erkenne ich: Eine unsichtbare Trennungslinie geht hindurch. Eine zweite Gruppe wird sichtbar, hinten. Aber wo schon ist hinten?
Geht man um die Skulptur herum, stehen jene Anderen vorne [Vorderseite Programm]: Aber sie wirken nicht einheitlich, geschweige denn bedrohlich. Ihre Haltung ist anders, unterschiedlicher: Einander zugewandt, untereinander gibt es Verbindungen, keine geschlossene Linie. Die Hände haben sie frei – um Kinder zu halten, sie dem Nächsten auf die Schulter zu legen, ein Buch zu tragen. Die Blicke sind nach vorn, zum Kind, zum andern, ins Buch gerichtet, vom Buch nach vorn. Vom Buch in die Welt.
Das eint: der Blick ins Buch. Und: Die Orientierung am Buch – das ist die unsichtbare Trennlinie zwischen den beiden Menschengruppen.
II.
Liebe Gemeinde,
genau das führt uns genau in die Trennlinien zur Zeit der Barmer Theologischen Erklärung hinein, mit der wir uns in den letzten Wochen in Erwachsenenbildungsreihe in den Kirchengemeinden in Nachrodt, Wiblingwerde und Altena beschäftigt haben. Dieses Zeugnis, das erste gemeinsame von reformierten und lutherischen Christen seit der Reformation, entstand 1934 – in einer Zeit, als der Nationalsozialismus versuchte, die Kirche gleichzuschalten, das Führerprinzip in ihr einzuführen und arische Rassenlehren bis hin zur Ausmerzung des Alten Testaments.
Genau heute vor 75 Jahren wurde die Erklärung auf der Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen verabschiedet.
Gerade zu Pfingsten gilt: Ihre Bedeutung besteht in ihrer Vergegenwärtigung und Aktualisierung des Wortes Gottes.
Nun kann man einwenden, dass ein politisches Wort, z.B. gegen die Judenverfolgung und Gleichschaltung nötig gewesen wäre. – Aber womöglich ist das Ringen um Gottes Wort noch weitreichender und klarer als bloß ein Wort zur politischen Lage. Denn es ging um nichts weniger als darum, welche Gruppierung für sich in Anspruch nehmen darf, Kirche zu sein.
Die nationalsozialistischen Deutsche Christen beriefen sich wie die Bekennende Kirche auf die reformatorischen Bekenntnisse – da musste der Rückgriff auf das Wort Gottes selber die Trennlinie markieren. Die Trennline zwischen der Parole „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ und dem Bekenntnis, das am Sockel der Skulpur steht: „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“.
Heute an Pfingsten können wir sagen: Genauso wie sich die Apostel nach der Himmelfahrt Christi um das Wort versammelten – und das Wort hörten, jeder sogar in seiner eigenen Sprache – , genauso bedurfte es 1934 einer Zusammenkunft. Gegen das Stimmengewirr der Zeit, gegen allen zerstörerischen und bedrängenden Zeitgeist sollte das Gottes Wort wieder gehört, ihm vertraut und ihm gehorchen werden.
Ähnlich heißt es in der 1. These (Unterschrift Skulptur): Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.
Verworfen wird in Barmen explizit der herrschende Zeitgeist, als ob neben Christus andere Ereignisse und Mächte (wie Volk oder politische Führer) als Gottes Offenbarung anerkannt werden dürften. Oder gegen die Versuche der Ideologisierung der Kirche wird gesagt: Es gibt kein Bereiche im Leben, wo man anderen Herren als Jesus Christus zu dienen hätte. Das war der Geist, das Verständnis des Evangeliums, das die Bekennende Kirche dem Zeitgeist entgegenhielt. Und das sorgte auch für politischen Sprengstoff!
III.
„Das Wort Gottes bleibt ewiglich“ – aber: Das Wort Gottes scheint in unterschiedliche geschichtliche Situationen hinein eine ganz unterschiedliche Wirkung und Kraft zu entfachen. Anders klingt es. Es scheint Menschen anders zu bewegen, obwohl es doch das eine Wort, das ewige Wort Gottes ist.
Was ist das Wort Gottes? – Schaut man auf die 1. Barmer These, dann heißt es: Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes.
Das „Wort Gottes“ ist zunächst nicht Buch, sondern Fleisch, Jesus Christus selbst, wie es am Beginn des Johannesevangelium heißt: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.
Der zweite Schritt: Dieses eine Wort, dieser Christus, wird bezeugt. Dies hat mit der Pfingstgeschichte und ihrer Vorgeschichte zu tun: Der Auferstandene entzieht sich der Erde an Himmelfahrt. An Pfingsten können die Apostel nun selber die Sache Jesu vertreten. Ausgestattet durch Mut, Orientierung und die Gegenwart Jesu auf andere Weise – schlicht: durch das, was die Bibel Heiligen Geist nennt.
Der dritte Schritt: das Zeugnis der Damaligen wurde verschriftlicht und ist mit dem Ersten Testament zum Buch, zur Bibel geworden.
Durch Christus selbst, durch seine Zeugen und die Schrift bleibt das Wort Gottes ewiglich – aber es ist immer aktuell durch begeisterte Nachfolger in eine konkrete Lebenslage hinein zu bezeugen. Darum bitten wir um den Heiligen Geist – übrigens viel zu selten in unsere Kirchen; wir überlassen dies viel zu oft den pfingstlerischen Gruppierungen…
Dabei können wir davon ausgehen, dass der Heilige Geist bei jeder Taufe wirksam wird. Alle Getauften, ab heute auch Louis und Alina, stehen in dieser verheißungsvollen Kette: vom getauften Jesus, der seine Jünger zum Taufen aufforderte, über die Apostel an Pfingsten, die den Geist empfangen haben, hin zu den vielen Generationen Christen, die durch die Taufe Anteil am Leben Jesu Christi haben.
IV.
Es gibt immer wieder erlebbare Momente, wo das Wort Gottes, das alte und ewige, so aktuell und so ergreifend wird, dass man spürt: die alten Worte haben Kraft für genau unserer Leben. Hier und jetzt.
In Barmen entstand mit Sicherheit ein solcher Moment: „Gott hat uns hier zusammengeprügelt“, sagte der westfälische Präses Karl Koch einmal auf die Frage, warum Reformierte und Lutheraner nach fast 400 Jahren erstmals zu einem gemeinsamen Wort fanden. Der spätere Präses Hans Timme berichtete noch Jahrzehnte später bewegt davon, dass – als dann um das letzte Wörtchen gerungen und die Erklärung fertig war – die gesamte Synode spontan „Nun danket alle Gott“ angestimmt hätte. Ein Moment der gemeinsamen Sprache, des einen Geistes, der das Gottes Wort lebendig macht!
Auch heute sind solche Moment möglich. Das mögen Momente sein, wenn Gemeinschaft spürbar wird – wo sonst das Gefühl des Alleinseins herrscht. Wenn schwere Momente durchstanden werden, für die man eigentlich meint, keine ausreichende Kraft zu haben. Wenn das Unmögliche möglich wird, an das man nicht geglaubt hätte.
Solche Momente sind möglich, wenn man auch den Mut zum Blick in die Schrift hat und den Mut zu Konsequenzen hat, klare Trennlinien zu ziehen – wie auf der Skulptur.
Wo also verläuft etwa die Trennlinie, wenn wir wochenlang über die Konsequenzen von Amokläufen debattieren und Killerspiele verbieten wollen – und dann werden in Köln Käfigkämpfe zelebriert, die die Erniedrigung des Gegners zum Ziel haben, Gewalt verherrlichen und geradezu zur Gewalt enthemmen?
Oder: Wo läuft verläuft die Trennlinie zwischen mittelständischen Unternehmern, die nachhaltig Arbeitsplätze zu sichern suchen und moderate Gewinne anstreben – und der Finanzwirtschaft, die nach kurzer Beseitigung der Schäden den Casinobetrieb schon wieder neu aufnimmt und – um im Bild der Skulptur zu bleiben – schon wieder blind in die gleiche Richtung marschiert?
Ich denke – und da wurde das Wort Gottes schon bei unserer Erwachsenenbildungsreihe lebendig -, dass wir als Kirche andere Orientierungspunkte in die Diskussion einbringen können. Schlicht die Frage: Was würde Jesus heute dazu sagen? Oder theologisch ausgedrückt: Was entbindet uns von heutigen Sachzwängen und Ideologien, von angeblichen Prioritäten und Notwendigkeiten? Von was erlangen wir Freiheit beim Blick in das Buch der Freiheit, die Bibel?
Denn das ist augenscheinlich das paradoxe beim Blick auf die Menschen der Skulptur: Diejenigen, die sich um das Buch versammeln, erlangen Freiheit – gerade durch ihre Bindung.
Die Menschen werden frei für einander. Statt starr geradeaus, entwickeln sie einen Seitenblick. Sie brauchen nicht uniform sein. Nicht einmal stark. Sie binden sich an das Wort Gottes – und gewinnen Handlungsspielraum.
Damals schon die Apostel an Pfingsten. Damals die Bekennenden in Barmen. Und heute? – Gottes Geist möge auch uns helfen: zu hören, zu glauben, zu gehorchen.