Einer trage des Anderen Last (1. So. n. Tr. 2007 zu Gal 5,25-6,10)

Jeder hat sein Bündel zu tragen.“ – „Jeder hat sein Bündel zu tragen.“ Der zentrale Satz des Predigttextes fährt diesem Zeitgeist direkt in die Parade: „Einer trage des anderen Last.“

Predigt – Hohenlimburg ref., 16.9.2007, 1. So. n. Trinitatis, #Gal 5,25-#Gal 6,10

25 Wenn wir [a] im Geist leben, so laßt uns auch im Geist wandeln.

26 Laßt uns nicht nach [a] eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.

6,1 Liebe Brüder, [a] wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, daß du nicht auch versucht werdest.

2 Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

3 Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.

7 Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn [a] was der Mensch sät, das wird er ernten.

8 Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. [a]

9 Laßt uns aber [a] Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen.

10 Darum, solange wir noch Zeit haben, laßt uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen

 

Einer trage des Anderen Last: Mit diesem Satz schreibt Paulus den Galatern ins Stammbuch, wie er sich ein gelingendes christliches Leben vorstellt – und für eine christliche Gemeinde bis heute gilt:

– Natürlich trägt man Lasten des Anderen. Natürlich üben wir Nächstenliebe und Solidarität und achten auf die Schwächeren. Und wenn’s nicht die Gemeinde schafft, dann kommt die Diakonie.

Und natürlich stellt sich dieser Satz, „einer trage des anderen Last“, mutig gegen die gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn das ist nicht an der Tagesordnung, damals wie heute!

 

Schon meine eigene Last ist groß genug, sagt der eine. Was wir nicht schon alles selber tragen müssen. Da muss man erst einmal selber gucken, wo man bleibt.

Der andere sagt: Wenn ich schon mal jemanden die Lasten abnehmen wollte, dann ließ er sich gar nicht helfen: Er wollte das alleine schaffen.

Und der dritte Einwand: Was soll man denn konkret machen? – Täglich hört man von soviel Leid und Lasten – wie soll man damit fertig werden, ohne sich eine künstliche Schutzschicht wachsen zu lassen, die mir einen Panzer gegen zuviel Elend und Leid verleiht? Besser sehe ich gar nicht mehr hin!

 

 

II.

„Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Dieser vollmundige Satz des Paulus überforderte uns – und er hätte auch die Brüder und Schwestern in Galatien überfordert, wenn er nicht im gesamten Zusammenhang des Galaterbriefes zu lesen wäre. Man muss quasi kurz „zurückspulen“ an den Anfang des 5. Kapitels: Dort steht:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.“ (Gal 5,1)

 

Paulus will den Brüder und Schwestern in Galatien nicht aktionistische oder gar gesetzlich aufoktroyierte Nächstenliebe verordnen und den moralischen Zeigefinger heben: „Ihr werdet euch ja wohl auch um die Lasten der Anderen kümmern?!“

 

Sondern ganz im Gegenteil: Paulus wehrt sich im Galaterbrief ganz entschieden gegen alle Tendenzen, dass die vom Mensch gemachten Normen, Konventionen und menschliche Regelsysteme wieder Oberhand gewinnen.

Die Gemeinde hatte zunächst das Christuszeugnis verinnerlicht. Doch nun bewegte sie sich im Krebsgang rückwärts:

Man glaubt nicht mehr so recht, dass die Liebe Gottes nicht zu verdienen ist, sondern umsonst zuteil wird. Dass man nicht selber seinem Leben Sinn schaffen muss, sondern der Sinn geschenkt ist.

Das Stehen in der Freiheit, selbstständig und aufrecht – ist ungewohnt. Als die Gemeinden ihr Heil wieder von Essensvorschriften und Beschneidung abhängig machen wollen, schriebt Paulus ihnen dieses Grundgesetz der Freiheit zu:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.“ (Gal 5,1)

 

Wir kennen solch selbst auferlegte Sicherheiten nur zu gut und auch die Lebensweisheiten unserer Gesellschaft:

Versichere Dich möglichst gegen alles!

Traue allein Dir und befreie Dich selbst!

Jeder ist seines Glückes Schmied – auch wenn nicht jeder Schmied Glück hat.

Wenn jeder für sich sorgt, ist für alle gesorgt.

 

Heute zählt vor allem die Freiheit, die die Freiheit von etwas ist: Frei sein von – jeglichen Verpflichtungen für andere. Frei sein -von der Sorge für Schwächere.

 

Dorthinein – sei es damals, sei es heute – trifft der Ruf des Paulus: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“

  • Die christliche Freiheit ist kein Liberalisierungsprogramm, sondern ein personales Subjekt, ein Mensch. Freiheit hat in Jesus, dem Christus, ein Gesicht, das mich anblickt, und eine Stimme, die mich anspricht. „Freiheit“ ist sein Leben und Wirken, Gottes „radikale Hingabe an Mensch und Schöpfung“ (P. Beier). Alles andere wird unwichtig und nichtig: Sorget nicht, sagt Jesus in der Bergpredigt, was ihr essen, was ihr anziehen werdet! Der himmlische Vater sorgt dafür. Ihr sorgt Euch um das Reich Gottes, eine Welt, die Gott liebt haben kann. Und dazu gehört dann eben auch, dass man die Lasten seiner Brüder und Schwestern trägt!
  • „Zur Freiheit hat uns Christus“ – Der Mensch ist nicht frei von Natur, wie es Rousseau behauptet hat. Der Mensch wird befreit, in die Freiheit entlassen, frei gesprochen. Paulus spricht davon, dass wir von Sünde und Tod und vom „Fleisch“ befreit sind. Sagen wir’s heute so: Jesus, der Christus, hat uns herausgeholt von allen elenden Bindungen an uns selbst Und uns herausgeholt aus allem, was uns in dieser Welt mit Macht binden will.

 

Nicht Moral, Anstand, nicht Aktionismus, nicht das schlechte Gewissen, treibt uns dazu, die Last anderer zu schultern, sondern: Freiheit. Frei, von uns weg zu blicken, und frei für auf andere blicken zu können – das ist christliche Freiheit.

 

So hat es mit Vehemenz die Reformation ausgedrückt, die reformierte Tradition genauso wie Martin Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“: Der Christ ist freier Herr und niemanden untertan. Er ist nur an den gnädigen Gott gebunden. Und gleichzeitig macht ihn genau diese Freiheit dazu bereit und fähig, jedem ein Knecht, ein Diener zu werden.

 

 

III.

Christliche Freiheit hat also Folgen. Das ist für Paulus selbstverständlich: „5,25 Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.“

Aus der Freiheit ergeben sich für Paulus ganz konkrete Dinge: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit, heißt es später. Und: Einer trage des anderen Last.

 

Glauben soll man sehen können. So ist es doch auch heute: Die Menschen wollen uns den Geist der Freiheit abspüren. Sie schicken uns ihre Kinder zur Taufe, in den Kindergarten, zum Konfirmandenunterricht. Sie fragen nach Diakonie, sie vertrauen uns ihre Toten an, weil sie darauf vertrauen: Hier tragen Menschen anderer Menschen Last, nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus freien Stücken.

Und zunehmend fragen die Menschen auch wieder nach dem Grund der Freiheit und dem Antrieb, der hinter unseren Taten und unserem Mühen steht: Denn sie sehen zunehmend, dass sich der Mensch gemeinhin, autonom und auf sich selbst gestellt, wieder „das Joch der Knechtschaft aufgelegt“ (Gal 5,1).

 

Glaube und Tat sind im Galaterbrief eng verwoben. Nur mit einer enge Verbindung von Glauben und Tat hat für mich die Kirche eine Zukunft. Viel zu lange haben wir uns abwechselnd immer für das eine und gegen das andere entschieden: viel Aktion in den 80er-Jahren, für den Frieden, gegen die Rüstung, für Versöhnung mit der Sowjetunion – da drohte häufig verloren zu gehen, was die Grundlage unseres Handeln war.

Viel Spiritualität, geistliche Selbsterfahrung in den 90er-Jahren – aber häufig abgehoben davon, wie die christliche Freiheit zur Tat für andere wird.

Die Alternative ist falsch. Beides ist dran. Fulbert Steffensky hat treffend gesagt: In einer Kirche mit Zukunft müssen die Linken fromm werden und die Frommen müssen links werden.

Die Tatkräftigen müssen wissen, warum sie Lasten schultern; die Überzeugten müssen zur Tat kommen.

 

 

IV.

Was wäre zu tun? – Paulus nennt ganz konkrete Dinge: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit – aber um der Freiheit in Christus willen macht er keine Vorschriften. Deshalb bleibt es bei der Zu-Mut-ung jedes einzelnen, nachzudenken.

 

Als Kirche erwachsen unsere Aufgaben aus dieser Freiheit. Gestern war der Hammer Aktionstag zum EKD-Reformpapier „Kirche der Freiheit“. Diese Losung „Kirche der Freiheit“ darf nicht zu einem Werbeslogan verkommen und erst recht nicht theologisch verwischen, dass sich die Gestalt von Kirche sich stark verändern wird. Die Losung erinnert die Kirche daran, dass sie der Welt die Botschaft von der freien Gnade schuldet – in Wort und Tat.

 

Sie wird – auch in kleinerer Gestalt – weiterhin genügend gesellschaftlichen Einfluss haben, um darauf hinzuweisen, wie sehr die Lasten in dieser Gesellschaft ins Wanken geraten sind:

 

2,5 Mio. Kinder und Jugendliche leben inzwischen von Hartz IV, 25% Prozent mehr als noch vor zwei Jahren. Am anderen Ende besitzen die reichsten 10% Haushalte 50% des Vermögens in unserem Land. Die Spanne wird immer größer, die Lasten sind zunehmend ungerecht verteilt, nicht schicksalhaft, sondern durch so gewollte Steuerpolitik!

„Einer trage des anderen Last“ ist für mich auch ein Sozialstaats-Postulat, dass Stärkere herangezogen werden, damit Schwachen sich eine Chance bietet.

Das bezieht sich nicht nur aufs Geld: Alle sollen Zugang haben zu Bildung und zu Gesundheit. Es droht, dass sich gute Bildung und gute Gesundheit nur noch leisten kann, wer auf der richtigen Seite der Gesellschaft geboren wird.

 

 

V.

Und die Einwände vom Anfang, warum wir uns mit dem Lastentragen so schwer tun? Meine persönliche Erfahrung ist: Lasten-Tragen trägt selber.. Sie werden das auch kennen: Wer hilft, der nimmt das Gegenüber wahr und sieht im besten Fall das Antlitz Gottes im Gegenüber.

– Ist die eigene Last nicht schon zu groß? – Man kann sich auch gegenseitig stützen!

– Will der andere überhaupt Hilfe? – Gefangen in mir selbst, habe ich oft genug nicht einmal gefragt!

– Und wo beginnen bei all dem Leid? – Beim Nächsten!

 

Befreit dazu stellt Paulus uns sogar Erfolg unseres Bemühens in Aussicht. Schlicht und im wahrsten Sinne ergreifend sagt am Ende unseres Predigttextes:

6,9 Laßt uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen.

 

Dazu befreie und stärke uns Gott, dessen Frieden höher als all unsere Vernunft ist. Amen.