Satirischer Rückblick (Altjahresabend 2006 zu Joh 8,30-36)

Jetzt sagen Sie nicht, es ist schon wieder Dienstag! Mit diesem Satz hat der Kabarettist Volker Pispers in diesem Jahr wöchentlich seine Radio-Satire eröffnet.

Predigt – Altjahresabend 2006 – Hennen

#Joh 8,30-36

 

Ich bin heute geneigt zu sagen: Jetzt sagen sie nicht, es ist schon wieder ein Jahr rum! Man muss sich nur einmal vor Augen führen, welche Themen die Kabarettisten zu verarbeiten hatten, und man sieht, wie dieses Jahr im Flug vergangen ist:

 

Kältewelle im Januar – Hitzewelle zur Fußball-WM.

Gammelfleisch-Skandal.

 

Mit Johannes Rau und Paul Spiegel verstarben zwei große Demokraten. Mohammed-Karikaturen und eine Papst-Rede in Regensburg erzürnten die islamische Welt. Wer kannte vor diesem Herbst die Mozart-Oper Idomeneo?

 

Kindernamen standen für unmessbares Leid: Stephanie aus Dresden. Dennis aus Cottbus. Kevin aus Bremen. Natascha aus Wien.

 

Die Ärzte streikten. Wir lernten die Rütli-Schule in Berlin kennen. Ein Transrapid verunglückte im Emsland, weil Streckenposten mit Zettel und Bleistift die Fahrt des modernsten Bahnfahrzeugs der Welt zu steuern hatten. Und: säßen wir heute hier, wenn der Störfall im schwedischen Kernkraftwerk Frostmark ein Super-Gau geworden wäre?

 

Wir diskutierten leidenschaftlich über die „Unterschicht“, während sich unsere Oberschicht, die Manager von VW und Siemens, in Korruptionsskandalen verstrickten.

 

Braunbär Bruno rückte auf den Fernsehbildschirm, während Ulli Wickert ihn verließ.

 

Wir könnten die Jahresbilanz um all das ergänzen, was in Hennen, in unseren Familien und uns ganz persönlich am eigenen Leib geschehen ist.

 

Bevor es laut wird, Böller in die Luft fliegen und zum Neujahr mit Sekt angestoßen wird, bleibt vielleicht jetzt ein kurzer Moment, Bilanz zu ziehen: Was ist uns gelungen? Was ist misslungen 2006? Was beklagen wir – wofür sind wir dankbar? Was nehmen wir gerne mit – und was lassen wir an dieser Schwelle zum neuen Jahr lieber hinter uns? Wo bleiben wir?

 

Ich stelle immer zum Jahresende eine Musik-CD zusammen mit einem „satirischen Jahresrückblick“, den ich Freunden und Bekannten schenke. Dann sinne ich über das vergangene Jahr nach – und ich tue es gerne mit Ironie, Humor und ein wenig Sarkasmus. Auch das (gerade das!), was mich geärgert, enttäuscht, traurig gemacht hat, lässt sich satirisch oft am besten bewältigen! Ob Satire und christlicher Glaube Gemeinsamkeiten haben?

 

 

[II. Bleiben im Wort Jesu]

 

Aber vielleicht erst einmal zur wichtigen Frage: Wo bleiben wir am Jahresausklang? –Der Predigttext für den Altjahresabend richtet uns neu aus auf den, dessen Geburt wir an Weihnachten gefeiert haben. Ich lese aus dem JohEv im 8. Kapitel:

 

Dort spricht Jesus, der Christus zu gläubigen Juden:

 

8,31b Wenn ihr in meinem Wort bleibt, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger

8,32 und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien. […]

8,36 Wenn euch nun der Sohn befreit, so seid ihr wirklich frei.

 

 

[1. „Bleibt in meinem Wort“ ]

Bleibt in meinem Wort: Die Johanneische Gemeinde wird schlicht und einfach daran erinnert, was dieser Jesus gesagt und gelehrt hat und dass er von sich selbst als Gottgesandter spricht:

– Ich bin das Licht der Welt – warum solltet es dunkel sein in euerm Leben, wenn ihr euch an mich haltet?

– Ich bin der gute Hirte – wer anders sollte euch durch das Leben, auch durch ein finsteres Tal führen?

– Ich bin der Weinstock – ihr die Reben. Wer in mir bleibt und ich ihn ihm, bringt gute Frucht.

 

[2. Jüngerschaft]

Die Menschen nach Ostern haben damit eine Antwort, wie sie weiterhin Jüngerinnen oder Jünger Jesu sind: nämlich indem sie sich an Jesu Worte erinnern, über ihn hören und predigen. Zu ganz unterschiedlichen Anlässen ist das Wort Gottes auch in dieser Gemeinde verkündigt worden: am Taufstein, an den offenen Gräbern. Vor Trauleuten. Immer wieder Sonntags.

Als Gemeinde werden wir zu Jüngerinnen und Jüngern, indem sie so leben, wie Jesus es vorgelebt hat: solidarisch mit den Schwachen und Bedrängten. – Oft ergreifen die Kabarettisten gerade für die Schwachen und Bedrängten klarer und deutlicher Partei als die christliche Gemeinde. Ob es wohl an der Ironie liegt, derer sie sich bedienen, und die sie schützt, moralin oder allzu betroffen herüberzukommen?

 

[3. Wahrheit erkennen]

Wer in Jesu Wort bleibt, zieht seine Wege auch im neuen Jahr nicht planlos oder im Dunkeln: Wir erkennen die Wahrheit, und sie wird uns befreien. (8,32)

Doch Vorsicht mit der Wahrheit! Es ist der Wunsch fundamentalistischer Schwärmer, im Besitze der Wahrheit zu sein und sie– unabhängig der Situation –herauszuholen.

 

Im JohEv erschließt sich die Wahrheit im Bleiben, im Ausharren, im „Bei der Sache Bleiben“. Immer wieder neu sollen wir uns auf dieses Kind in der Krippe ausrichten, auch dann, wenn Weihnachten vorbei ist, auch dann, wenn wir dieses Jesuskind seine Niedlichkeit verliert und es den Lauf der Welt, auch den Lauf unseres Lebens, gehörig durcheinander bringt: Der erwachsene Jesus fordert Gerechtigkeit ein, wo Unrecht herrscht. Er übt Barmherzigkeit, wo Hartherzigkeit an der Tagesordnung ist. Er setzt Menschen ins Recht, die längst im Regen stehen gelassen werden.

Christus bewahrheitet sich also in unserem Leben immer wieder neu: indem wir seine Botschaft am Gang der Welt überprüfen und sie über-setzen in die Ereignisse heute. Wo hat sich Jesu Wort, seine Person im Jahr 2006 bewahrheitet und unser Leben heil gemacht?

 

Ich bin immer wieder fasziniert, wie sehr Kabarettisten ihre Wahrheiten beim Namen nennen, aber ebenso heilsamen Interpretationslücken offen lassen: Wir sind gefordert, die Wahrheit hinter der Pointe für unser Leben, unsere Lebenslage, auszuloten. Ähnlich sehe ich es mit der christlichen Wahrheit, auch wenn sie uns freilich von außerhalb unseres Menschseins trifft.

 

[4. Befreiung]

Wo sich Christus in unserm Leben bewahrheitet, wo unsere Existenz von ihm betroffen ist, atmet Freiheit. Freiheit, die unser übliches Freiheitsverständnis auf den Kopf stellt.

Freiheit gilt heute hinlänglich als „Recht auf sich selbst“ (Kurt Hiller): Ich soll ein Recht haben, autonom mein Lebensstil zu leben – unabhängig auf wessen Kosten auch immer. Freiheit soll Befreiung von sozialer Verantwortung für Andere sein.

Die Freiheit des Menschensohnes ist anders: Sie befreit gerade vom Blick auf mich selbst – und damit auch von den Überforderungen, die ein Leben allein nach eigenen, menschlichen Maßstäben mit sich bringt.

Die Freiheit des Menschensohnes befreit mich davon, mein Herz an Reichtum, Gesundheit, Schönheit oder Karriere zu hängen – alles Werte, die den Menschen nur um sich kreisen lassen, nicht aber um den Mitmenschen.

Die Freiheit des Gottessohnes bindet mich allein an Gottes Wort und Gebot. Und Gott bindet sich an mich, wie es Ps 139 ausdrückt:

Ob ich sitze oder stehe, du weißt es!

Du kennst meine Pläne!

 

 

In dieser Bindung und in diesem Vertrauen, dass Gott uns nahe ist und uns begleitet, kann ich das vergangene Jahr loslassen und mutig und sicheren Schritts ins neue Jahr eintreten: frei auch vom Belastendem, befreit zum klaren Blick auf alles, was 2007 nötig und sinnvoll ist.

 

 

[III. Satire kratzt an der Macht]

 

Als ich meinen satirischen Jahresrückblick erstellt habe, habe ich tatsächlich Gemeinsamkeiten zwischen Kabarett und Glaube entdeckt:

Satire legt den Respekt vor Normen und Zwängen ab. Auch Satire kratzt an allem, was Macht über uns haben will. Insofern ist Satire auch widerständig. Satire befreit – im psychologischen Sinne.

Und wenn uns gar nicht zum Lachen zu Mute ist: Satire schafft – zumindest kurzfristig – eine heilsame Distanz zu dem, was uns bedrängt.

 

Ich sehe 2006 mit einem Lächeln, mit frohem Mut – trotz allem. Indem ich Spott treibe, kann ich loslassen, ohne die Wirklichkeit zu verdrängen. Und leicht, erleichtert, kann ich 2007 beginnen. Dazu kein ernstes, aber ernsthaftes Rezept von Katharina Elisabeth Goethe, der Mutter von Johann Wolfgang von Goethe, das für mich christliche Leichtigkeit ausdrückt:

 

Man nehme 12 Monate, putze sie sauber von Neid, Bitterkeit, Geiz, Pedanterie und zerlege sie in 30 oder 31 Teile, so dass der Vorrat für ein Jahr reicht. Jeder Tag wird einzeln angerichtet aus 1 Teil Arbeit und 2 Teilen Frohsinn und Humor. Man füge 3 gehäufte Esslöffel Optimismus hinzu, 1 Teelöffel Toleranz, 1 Körnchen Ironie und 1 Prise Takt. Dann wird die Masse mit sehr viel Liebe übergossen. Das fertige Gericht schmücke man mit Sträußchen kleiner Aufmerksamkeiten und serviere es täglich mit Heiterkeit.

Dazu helfe und befähige uns der wahrhaft gewordene und befreiende Gott. Amen.