Andacht in „Unsere Kirche“ (10. So. n. Trinitatis 2006 zu Jes 62,6-12)

Kein Stein bleibt auf dem anderen: Wenn Krieg ist, trifft es immer die Bevölkerung und die Städte, sei es heute in Nahost, sei es zur biblischen Zeit, als Israel 586 v. Chr. Opfer der Babylonier wird. Dort ist am Ende der Tempel zerstört, die Heilige Stadt liegt in Schutt und Asche, das Volk muss ins Exil. Israel ist von der Landkarte getilgt. Was heute Drohung ist, wird damals Realität und hat sich als Schmerz und Furcht ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Bis heute.

 

6 Ich habe Wächter auf deine Mauern gestellt, Jerusalem! Weder bei Tag noch bei Nacht soll ihr Ruf verstummen. Ihr Wächter seid dazu bestimmt, den HERRN an Jerusalem zu erinnern! Ihr dürft euch keine Ruhe gönnen,

7 und ihr dürft Gott keine Ruhe lassen, bis er Jerusalem wiederhergestellt und so herrlich gemacht hat, dass alle Welt es rühmt.

8 Der HERR hat geschworen, und er hat die Macht, es auszuführen: »Euer Korn sollen nicht mehr Feinde essen, und euren Wein nicht mehr Fremde trinken, die nicht dafür gearbeitet haben.

9 Wer die Ernte einbringt, soll auch das Brot essen, und wer die Trauben liest, soll auch den Wein trinken. Ihr werdet davon im Vorhof meines Tempels essen und trinken und mich dabei preisen.«

10 Ihr Bewohner Jerusalems, zieht hinaus durch die Tore eurer Stadt! Bahnt einen Weg für das heimkehrende Volk! Baut eine Straße, räumt die Steine aus dem Weg! Richtet ein Zeichen auf, dass die Völker es sehen!

11 Auf der ganzen Erde lässt der HERR ausrufen: »Sagt der Zionsstadt: ‚Deine Hilfe ist nahe! Der HERR kommt, und er bringt das Volk mit, das er befreit hat.’«

12 Es wird »Gottes heiliges Volk« genannt werden, »das Volk, das der HERR gerettet hat«. Du selbst aber heißt dann »die Stadt, die Gott liebt«, »die Stadt, die er wieder angenommen hat«.

 

 

Drei Generationen später der nächste Schock, als die Ersten nach Jerusalem zurückkehren: Kriege enden nicht im Frieden – tatsächlich ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Dabei wollte Gott doch Jerusalem wieder aufrichten: „Fürchte dich nicht, du Würmlein Israel… Ich helfe dir, spricht der Herr“ (Jesaja 41,14). Doch die Hoffnung auf einen raschen Tempel-Neubau zerschlägt sich. Die Kriegsfolgen lassen sich nicht schnell kitten.

Nach welcher Ordnung soll das Leben wieder beginnen? Was bietet Gott an in dieser Situation? Die Hoffnung auf das „Neue Jerusalem“ schweift weit in die Ferne, bis an die Schwelle, an der Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen will (Jesaja 65): Dann bauen die Menschen (wieder) Häuser und bepflanzen ihre Weinberge. Dann soll es keine Kinder geben, die früh sterben (gedacht sei an die toten Kinder in Nahost!). Dann weiden selbst Wolf und Schaf friedlich beieinander. Aber wie lange ist es noch bis dahin? Zu lange, bis die Wunden heilen!

Was also ist sofort zu tun, damit über Jerusalem die „Herrlichkeit Gottes“ aufgeht (Jesaja 60,1), d.h. eine Stadt entsteht, für die Gott will, dass es den Menschen gut geht und sie unbesorgt und mit Freude leben können? – Der Prophet leitet zwei konkrete „Maßnahmen“ ein: Zum einen setzt er Wächter auf den Stadtmauern ein. Sie sollen pausenlos die Menschen (und Gott selbst!) daran erinnern, dass Gott Frieden vorhat mit seinem Volk und mit allen, die mit ihm leben wollen. Auch wenn es keinen Tempel mehr gibt: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“ (Titel der Hauptvorlage „Christen und Juden“). Selbst in Trümmern kann neues Leben beginnen, wenn man die Kriegslogik umkehrt und dem traut, was Gott verspricht: Nicht mehr die Feinde essen vom Getreide, sondern wer es gesät hat, soll selber ernten. Wer die Trauben liest, der soll den Wein trinken.

Zum anderen ein doppelter Appell: „Räumt die Steine aus dem Weg!“ Wo kein Stein auf dem anderen blieb, soll die Stadt wieder wohnbar gemacht werden. Gott braucht für das „Neue Jerusalem“ Helfer, die für ein friedliches Zusammenleben die „Altlasten“ wegräumen. Sie sollen – ganz banal – den Schutt abtragen und den Heimkehrenden entgegengehen, damit diese nicht der Schlag trifft. Und: „Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ Die ganze Welt soll sehen, dass Jerusalem auf dies Weise eine Stadt wird, die Gott liebt.

Welche „Zeichen“ könnten heute aufgerichtet werden? Einmal mehr braucht es die Friedliebenden in den Religionen, die neu wiederholen: Im Namen ihres Gottes kann kein Krieg geführt werden. Über politische Diktionen hinweg ist Verständigung und Dialog möglich sind, wie es Libanesen und Israelis in den Internetforen zeigen. Das Spiel von Gewalt und Gegengewalt macht beide Parteien zum Verlierer.

Jerusalems Geschichte zeigt, wie schmerzhaft Trümmer bleiben: Vom zweiten Tempel blieb den Juden nur die „Klagemauer“, umrahmt von der Grabeskirche der Christen und dem Felsendom der Muslime – ein Sinnbild für eine zusammengerückte, aber gleichzeitig spannungsgeladene Welt. Was anders als Frieden ist der Weg in die Zukunft? – Am Israelsonntag zeigt sich für mich die Solidarität mit Israel genau darin, mit auf der Wächter-Zinne zu stehen und Gott und Mensch in den Ohren zu liegen: dass Frieden werde.

 

 

Gebet:

Wir beten für alle Menschen und Völker im Nahen Osten, insbesondere für die, die durch die gegenwärtigen Kampfhandlungen an Leib und Seele verwundet sind, und für die, die den Verlust von Angehörigen und Freunden beklagen.

Wir beten für Juden, Christen und Muslime, dass sie das Friedenspotential ihrer jeweiligen Religion neu entdecken und für ihr Zusammenleben mit anderen fruchtbar machen.

Wir beten für Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten, bei uns selbst und in der Welt.

(aus dem EKD-Gebetsaufruf)

 

 

Dietmar Kehlbreier (33) ist Pfarrer im Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung der EKvW in Villigst und lebt in Schwerte.