20 Jahre Tschernobyl (Quasimodogeniti 2006 zu Kol 2,12-15)

Samstag, 26. April 1986, nachts um 1:23 Uhr. Im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodieren 180 000 Kilogramm hochradioaktives Material. Das entspricht der Menge von 1.000 Hiroshima-Bomben.

Predigt – Quasimodogeniti PGH/Villigst 23.4.2006

Predigtthema/-text: Tschernobyl (Kol 2,12-15)

In den Morgenstunden: Ein Hubschrauber, in dem der Fotojournalist Igor Kostin sitzt, schwebt über Block 4. Das Dach, die 3000 Tonnen schwere Stahlbetonplatte, ist weggerissen von der Explosion, umgeklappt wie ein Pfannkuchen. Auf dem Grund der Ruine erkennt Kostin nur schwach den rötlichen Schein des schmelzenden Reaktorkerns. An seinem Unterarm laufen heiße Schweißtropfen herab. Die Temperaturen sind hoch, dabei kann er nirgends eine Flamme sehen. Er öffnet das Seitenfenster, spannt seinen Fotoapparat und drückt ab. Ein Schwall heißer Luft dringt in die Kabine. Es kratzt sofort in seiner Kehle, er muss sich räuspern und kann kaum schlucken.

 

Die Kamera blockiert. Er drückt mit aller Kraft auf den Auslöser, aber Fehlanzeige, der Mechanismus klemmt. Als er später die Fotos entwickelt, sind fast alle Bilder schwarz, so als wäre die Kamera bei hellem Licht geöffnet worden: Die Strahlung hat alle Filme belichtet. Nur das erste Bild ist weniger beschädigt und ist das einzige existierende Foto vom Unfall.

 

Am dritten Tag nach der Katastrophe meldet die Prawda, das offizielle Organ der sowjetischen Regierung, lapidar: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl ist es zu einem Unfall gekommen. Einer der Reaktoren ist beschädigt… Es werden Maßnahmen getroffen, eine Regierungskommission ermittelt.“

 

Piloten werfen Blei und Sand ab. Als ferngesteuerte Maschinenroboter wegen der hohen Radioaktivität streiken, kommen Soldaten und Feuerwehrmänner zum Einsatz. Viele von ihnen, man schätzt 50 000 bis 100 000, sind gestorben, und 90 Prozent von ihnen sind schwer erkrankt. In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet das: 540 000 bis 900 000 junge Männer sind infolge von Tschernobyl schwer erkrankt. Sie haben ihr Leben, ihre Gesundheit geopfert. Sehr wahrscheinlich wäre das Ausmaß der radioaktiven Kontamination ohne ihre Arbeit auch in Europa noch viel größer gewesen.

 

I.

Liebe Gemeinde,

die Osterfreude ist damals, 1986, auf eine harte Probe gestellt worden – und wird es auch heute noch, 20 Jahre nach der größten vom Menschen herbeigeführten Umweltkatastrophe: Tschernobyl ist eine Nagelprobe für uns Christinnen und Christen: Was bleibt von Ostern, wenn diese Welt so gnadenlos unerlöst ist?

 

Tschernobyl markiert den Übergang von Ostern zurück ins alltägliche Leben, wie er brutaler nicht sein könnte. Und: Tschernobyl ist dabei nur ein Schlagwort für alle Unerlöstheit dieser Welt, für die vielen Anfechtungen, vor denen wir – von Ostern kommend – fraglos stehen. Und wo sich der österliche Ruf „Tod, wo ist Dein Stachel“ geradezu umdreht: Leben, ewiges, sinnerfülltes Leben, wo finden wir Dich? Wo ist Leben, das wir ersehnen?

 

Der heutige Predigttext aus dem Koloserbrief hilft uns bei einer Antwort. Der Tenor: „Lasst Euch nicht irre machen!“ Sondern: Hängt Eure ganze Existenz an Jesus, den Christus, von Eurer Taufe an, durch alles Leid hindurch, das er für uns erlitten hat bis zu seinem Triumph: über alle zerstörerische Kräfte dieser Welt hinaus.

 

Der Koloserbrief setzt unser ganzes Leben in Verbindung mit Jesus, dem Christus – und nicht nur die positiven und guten Seiten: Wir sind von der Taufe an untrennbar verbunden – durch alles Leid hindurch, ja bis in den Tod. Und: Wie die Beschneidung der Juden ein lebenslanges äußeres Zeichen für die Gottesbeziehung ist, so ist es das Christusbekenntnis für die Christen: An ihm will ich hängen – welche Anfragen auch immer mein Leben durchziehen.

 

 

II.

Was zur Zeit des Koloserbriefes Vergewisserung gegen gnostischen Irrlehren waren, mag uns als Gemeinde heute eine Selbstvergewisserung sein: Meine ganze Existenz hängt an Christus!

Christus ist gestorben – aber nicht für sich oder abstrakt für eine gute Sache, schon gar nicht, um Gott wohlzustimmen. Sondern: Er ist für mich gestorben. Um deutlich zu machen: Gott bleibt nicht außenvor, wenn Menschen leiden und Unrecht erfahren. Selbst dann nicht, wenn Menschen einander Kreuze aufrichten, nicht einmal, wenn auf Golgatha sein eigener Sohn einen unnützen, unverdienten und ganz und gar sinnlosen Tod. Selbst dann ist Gott ist mittendrin!

Und in Tschernobyl sterben die Ebenbilder Gottes einen ähnlich qualvollen und sinnlosen Tod. Und Gott kann gar nicht anders gedacht und gefühlt werden als mittendrin, mitleidend, anklagend, aushaltend.

 

Ostern gibt es nicht abgekoppelt vom Leid und der Elösungsbedürftigkeit der Menschheit. Sonst wäre der Osterglaube ein weltfremder und billiger Triumpfalismus und der Glaube eine Weltflucht. Ostern nimmt seinen Ausgangspunkt am Kreuz.

 

Liebe Gemeinde,

das ist mir deshalb so wichtig, weil wir in einer Zeit leben, in der wir Leid wegswitchen können mit der Fernbedienung. In der wir das Leid aus unserer Wirklichkeit aussperren können: weg in Pflegeheime, weg auf die Krebsstationen der Krankenhäuser, in die Arbeitsämter, auf die Hauptschulen. Auch ich kann manchmal gar nicht mehr hinhören, was alle querliegt mit unserer Welt und Gesellschaft.

 

Die öffentliche Hinrichtung unseres Heilandes spätestens holt das Leid aber zurück in die Mitte unserer Welt und unseres Lebens. Deshalb habe ich von Tschernobyl erzählt. Nicht, um weiteres Leid noch obendrauf zu packen auf unser Gemüt. Sondern: Um auf den Ausgangspunkt von Ostern zu verweisen und schlicht und ergreifend: um Menschen, die heute leiden, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Eine Journalistin schrieb neulich über die Reaktorkatastrophe: „Jetzt, 20 Jahre später, erleben wir eine zweite Katastrophe. Die Folgen von Tschernobyl, der zweiten großen atomaren Katastrophe des 20. Jahrhunderts, werden vertuscht und verleugnet. Wie die Hibaksha, die Opfer von Hiroshima, so werden auch die Opfer von Tschernobyl alleine gelassen und aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gestrichen.“

 

Deshalb: Lasst uns nicht verschämt schweigen, als ob das Leid unserer Welt nicht zur Osterbotschaft passte. Es ist genau andersherum: Erst unter den Kreuzen unserer Zeit eröffnet sich das Geheimnis von Ostern, von neuem Leben, vom Sieg über den Tod.

 

III.

Es gibt eine zweite Seite der Medaille: Es gibt nicht nur kein Ostern ohne den Leidenweg Jesu. Sondern ich glaube auch fest an die Umkehrung: Es gibt das Leid dieser Welt nicht ohne Ostern als Antwort darauf.

 

Sonst wären wir buchstäblich tot: Wir blieben der Welt verhaftet, so wie sie ist. Wir müssten uns ergeben in Sachzwänge und den Status Quo. Unser Predigt wäre ohne Ostern vergeblich und unser Glaube auch (1Kor 15,14). Und: Wir müssten uns abfinden mit Tschernobyl – und wir würden uns damit abfinden. x

 

Aber erneut trifft uns Jesus, der Christus, in Mark und Bein: „Ihr seid auferstanden mit Christus durch den Glauben“ (Kol 2). Welch eine Zusage, und fast könnten wir so ungläubig drein schauen wie Thomas [Evangelium: Joh 19]: Wir haben Anteil am Ostergeschehen!?

Ja! Goethe beschreibt das im Ostersparziergang des Faustes, als er über die Christen sagt: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn. Denn sie sind selbst auferstanden.“

 

Wir sind Mitstreiter des Auferstandenen – weil frei: frei von Schuld: Denn unsere Schuld, die heute stellvertretend den Namen Tschernobyl trägt, ist „ans Kreuz geheftet“ (Kol 2,14):

  • die Maßlosigkeit des Menschen, zu meinen, eine so gefährliche Technik wie die Atomkraft alle Zeit im Griff zu haben,
  • die Unwahrhaftigkeit, nicht zuzugeben zu wollen, wie viel unsägliches Leid über die Menschen kam und wie viele Generationen sie ausbaden werden,
  • schließlich die Trägheit, viel zu langsam aus diesem Wahnsinn auszusteigen und erneuerbare Energien zu fördern, weil sie schlicht lebensdienlicher sind und nachhaltiger mit Gottes Schöpfung umgehen!

 

Wir sind Mitstreiter des Auferstandenen – weil frei: frei für den Nächsten, der uns braucht und uns abspüren können soll: Hier leidet jemand mit mir mit und setzt sich dafür ein, dass Du ins Recht kommst. – So wie bei Jesus selber, der nicht in Galiläa bliebt. Der nicht auf seine Freunde hörte. Der seinen Blick nicht auf die gesellschaftlichen Elite sondern auf die Rechtlosen und Stummen richtete.

 

Österliche Existenz, so meine ich, setzt sich dem Leid oder dem Mit-Leid aus – und versprüht gleichzeitig neue Hoffnung für und sogar über unsere Welt hinaus.

 

IV.

Deshalb noch eine kurze zweite Tschernobyl-Geschichte:

 

Ich habe Nadeshda vor einiger Zeit in Bonn kennen gelernt. Woher sie kommt? Die weißrussische Lehrerin greift zur Landkarte: Dort, nur wenig westlich von den rot umkreisten Gebieten, die seit dem April 1986 durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl völlig verstrahlt sind. Das Leben mit solchen Landkarten, die warnend die unbewohnbaren und inzwischen eingeebneten Orte aufzeigen, ist selbstverständlich geworden. Man muss sich schützen. Ebenfalls alltäglich: das häufige Krank- und Erschöpftsein: Viele ihrer Schüler fehlen im Unterricht. Und diejenigen die da sind, … mit denen kann sie allenfalls 20 Minuten arbeiten: Länger reicht die Konzentration nicht.

Ob das von Tschernobyl kommt? Beweisen kann’s keiner, aber alle wissen es. Dann: die ständige Vorsicht bei Lebensmitteln: Wo kommt es her? Was ist es? Kartoffel ja, die wachsen in der Erde, aber kein Kohl!

Die junge Frau ist zu Gast einem deutschen Ehepaar: Inge und Johann. Vor 15 Jahren haben sie damit begonnen, Kinder aus dem verstrahlten Gebiet zur Erholung nach Deutschland einzuladen. Inzwischen gibt es zahlreichen Hilfsprojekte: Spielzeug für Kindergärten, Nahrungsmittel für ein Internat und Medikamente und Betten für Krankenhäuser – alles das wird mühsam gesammelt und nach Weißrussland geschickt. Für 43 Kinder hat ihre Kirchengemeinde die Beiträge für einen Kindergarten aufgebracht: So bekommen die Kinder täglich Essen, die Kindergärtnerinnen haben Arbeit. Ohne das finanzielle Engagement der Gemeinde ginge das nichts ginge.

Zahlreiche Schüler waren zur Erholung in Deutschland. Was sie am liebsten wollten? „Frische Luft atmen und einmal sorglos in ein Schwimmbad springen!“ Denn das geht zu Hause nicht.

Inge und Johann machen aus ihrer Haltung und ihrer Hilfsbereitschaft keinen großen Bohai. Am Ende unserer Begegnung sagt Nadeshda, auf die schwere Situation in ihrem Land angesprochen: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

„Nadeshda“ – das heißt Hoffnung auf Russisch, wie auch das Kinderzentrum, das die westfälische Männerarbeit in Weißrussland gegründet hat. „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Denn die Frau hat Menschen kennen gelernt, denen nicht egal ist, wie sie und ihr Volk leiden. Wie die Natur stirbt. Wie die Zukunft von Menschen dahingeht. Sie ist Menschen begegnet, die selber von voller Hoffnung sind, das das Leben siegt.