Nur wer zu träumen wagt, gewinnt die Zukunft (Abi-Gottesdienst 2002)

Wer zu träumen wagt, gewinnt die Zukunft. In der Begrüßung, in der Meditation und den Liedern ist dies bereits angeklungen: träumen zu wollen, ja geradezu notwendigerweise träumen zu müssen, bringt uns unseren Zukunftsplänen näher.

(Predigt – Paul-Gerhardt-Haus, Abigottesdienst Fr.-Bährens-Gymnasium, 20.06.2002)

Nicht nur die Vorbereitungsgruppe, sondern alle Abiturientinnen und Abiturienten träumen: Ihr habt alle in Eurer Abizeitung von Euren Zukunftserwartungen geschrieben.

 

Zukunftsträume

 

Ich nenne ein paar:

 

Die Welt entdecken und unabhängiger werden.

Der Traum, in ein wärmeres Land auszuwandern.

Endlich bei Famila kündigen und den Führerschein machen.

Prof. Dr. Dr. für irgendwas werden.

Erstmal ausspannen.

 

Einige schreiben von ihrer Vorfreude auf’s Studileben, die anderen haben Zivil- oder Wehrdienst vor Augen.

In einer Zukunftsvision heißt es: „Glücklich werden: Am Ende des Lebens sagen können: Ich würde alles wieder genauso machen.“

Das sind alles starke Worte, glücklicherweise auch nicht allein bierernste Worte.

 

Denn Träume sind leicht. Sie dürfen das Blaue vom Himmel posaunen.

Sie bilden nicht den Ist-Zustand ab, sondern den Soll-Zustand: Daher sind Träume auf Veränderung aus, erfrischend naiv, provokant, sehnsüchtig. Sie haben kritisches Potential, weil sie sich nicht abfinden wollen mit dem, was ist.

 

Und: Eure Träume gehören zunächst einmal Euch. Ihnen kann kein anderer widersprechen: Deshalb gilt auch der Traum, der sagt: Nach dem Abi will ich erst mal „ganz viel Blödsinn zu machen“. – Wobei man diesen Traum auch zur Schulzeit schon hätte verwirklichen können!

 

Eure Träume gehören zunächst einmal Euch: Allzu schnell sollen sie herhalten dafür, dass Ältere ihre Träume nicht verwirklichen konnten. Ich habe das vor 10 Jahre, als ich Abitur machte, in dem Satz deutlich gespürt: „Nun gehört Euch die Zukunft.“ So nach dem Motto: Wir haben früher auch geträumt, von Freiheit und Mündigkeit Ende der 60er-Jahre, vom Weltfrieden in den 80er-Jahren, nun seid Ihr dran, das endlich zu verwirklichen.

Nein. Eure Träume stopfen keine schlechten Gewissen anderer, sie entbinden die anderen auch nicht davon, dabei zu helfen, Eure Träume zu realisieren.

 

 

Aber Ihr merkt schon: Träumen ist ein Wagnis.

Ihr habt 13 Jahre täglich Platz genommen und hoffentlich davon gehört und erfahren, welche Träume, welche Zukunftsvisionen Eure Lehrerinnen und Lehrer haben. Ihr wisst um die Träume Eurer Mitschülerinnen und Mitschüler, weil Ihr ein gutes Stück Lebensweg gemeinsam gegangen seid. Und da bleibt nicht verborgen, was beim einen, bei der anderen die Zukunft bringen soll. Zu Hause hat man Euch – vielleicht mit einem etwas bangen Blick – gefragt, was ihr plant.

Nun steht Ihr vor dem Wagnis, Euch genauere Rechenschaft anzulegen über Eure eigenen Träume und Visionen: Wo soll’s beruflich hingehen?

Was wähle ich im September bei meiner ersten Bundestagswahl, wo mir ab sofort kein SOWI-Lehrer kein Material mehr an die Hand gibt, aus dem zumindest deutlich wird, was er wählt? – Ich muss entscheiden. Bin ja auch alt genug!

Was mache ich aus meiner Zeit? – Wo engagiere ich mich?

 

Träumen ist ein Wagnis – zumal wir unsere Träume in einer traumlosen Gesellschaft träumen:

In dieser traumlosen Gesellschaft ist oft zu hören: Du kannst ja gerne von einer besseren Welt träumen – aber bitte nachts im Bett. Tagsüber zählen Fakten, Kurse, Leistung. Sich zurechtfinden.

Auch wenn hin und wieder Träume durchschimmern: Der Traum vom Halbfinale …

Die Traumfigur, die zum Alptraum werden kann.

Der Traumtyp, den man nicht abbekommt.

Eigentlich heißt es: Realpolitik statt Utopien. Schnelle Antworten in 0:30 statt die Zeit für große politische Entwürfe. Den Platz des Träumers hat eigentlich der Macher eingenommen. Die Zukunft ist weit entfernt. Und für die Gegenwart richten Träume eigentlich nichts aus.

 

Eigentlich.

 

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns etwas in die Tasche lügen. Wir brauchen Träume – gerade als Richtschnur für die Gegenwart: Nur wer zu träumen wagt, steht auf festem Grund, um in dieser traumlosen Gesellschaft die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es geht also beim Träumen um Zukunft und Gegenwart.

 

[Träumen ist erfülltes Leben]

Ich kann das nur und möchte es hier am Träumen festmachen, das die Bibel kennt.

Es gibt wenig Träume und Träumer in der Bibel. Aber ein roter Faden der Bibel – vielleicht der rote Faden schlechthin – sind die Geschichten und Bilder, die Hoffnung auf ein erfülltes Leben ausdrücken. Hoffnung.

Und jede Geschichte, die vom Glauben spricht, spricht vollmundig davon: Ja, ich vertraue Gott, dass er meine Hoffnung auf ein erfülltes Leben nicht enttäuscht.

Träumen ist also Hoffnung-Haben. Der Glaube ist das Vertrauen, dass Träume nicht nur Schäume sind.

 

Ich lese zwei kurze Verse aus Mk 11, in dem Jesus zu seinen Jüngern spricht:

„Wer zu diesem Berge spräche: Heb Dich und werfe dich ins Meer! Und er zweifelte nicht in seinem Herzen, sondern glaubte, dass geschehen werde, was er sagt, so wird’s ihm geschehen.

Alles, was ihr bittet, …, glaubt nur, dass ihr’s empfangt, so wird’s euch zuteil werden.“

 

Ich weiß nicht, wie das auf Euch wirkt. Es klingt auch mir unheimlich in den Ohren: Die Hoffnung – sie soll hier buchstäblich Berge versetzen können.

Berge versetzen – was der Verstand nicht erklären kann. Extremer noch: Was der Verstand fast völlig ausschließen könnte: Es soll passieren können.

Wer nicht dran zweifelt, sondern wer dran glaubt, wird’s schon erleben.

 

Die Hoffung kann Berge versetzen – das ist natürlich nur das Bild, das wir in unserer Sprache auch kennen.

 

Gemeint ist natürlich etwas anderes: In der Bibel träumen die Menschen den Traum von Gottes neuer Welt, dem Reich Gottes:

  • einer Welt, wo Menschen in Frieden und Ruhe ihre Weinberge pflanzen und kein Krieg und kein Unrecht sie daran hindert, den guten Wein zu ernten. (Ich würde mir wünschen, dass Ihr Eure Existenz ebenso aufbauen dürft!)
  • der Traum einer Welt, in die Mütter ohne Schrecken und Zukunftsangst ihre Kinder gebären. (Auch das ist für uns inzwischen auch keine Selbstverständlichkeit mehr!)
  • sogar der Traum von einer eine Welt, in der alle Streitigkeiten über die Religion ein Ende haben wird: Dann werden wir alle Gott schauen und wir wissen im Herzen, worüber wir uns heute mit dem Kopf streiten.

 

Ich habe jetzt dreimal gesagt: der Traum von einer Welt, einer neuen Welt, aber eben einer Welt. Und gleichzeitig reden wir von Hoffnungen und Träumen.

 

Es gehört also ganz eng zusammen:

Es wird der Himmel beschrieben – und er ereignet sich auf der Erde. Mitten uns.

Hier wird die gute Zukunft beschworen – und sie gewinnt Bedeutung für die unmittelbare Gegenwart.

Es berühren sich Himmel und Erde.

 

Ich denke: Nichts anderes passiert in Euren Träumen:

Wer davon träumt, am Ende glücklich auf sein Leben zurückblicken zu wollen –

der durchkreuzt doch heute das Leben anderer in friedlicher Absicht.

Und wer davon träumt, dass Menschen sich irgendwann einmal überall frei entfalten, unabhängig von Geld, Nationalität und Religion –

der wird wohl kaum heute seinem ausländischen Kommilitonen den Studienplatz neiden.

 

Der Traum ist so etwas wie ein Magnet.

Er lenkt in die richtige Richtung auf das Ziel zu.

Er leitet.

Er wird zu einer Richtschnur, im Hier und Jetzt „richtungsweisend“ zu handeln.

 

Das ist das eine.

Das andere:

 

[Die Freiheit des Traumes]

Der Traum macht Euch frei von dem, was andere Euch sagen, das ihr tun sollt.

Euer Abi-Motto „Born to be wild!” verstehe ich als ein “Born to be free”: Wer einen konkreten Traum hat, ist immun gegen alle Wendehals-Mentalität. Gegen alle Opportunität und gegen die ewigen Sachzwänge. Wer seinen Traum in Herzen bewegt, der erhält sich seine klare Linie, um sich seinen Traum zu erfüllen.

So verstehe auch ganz persönlich als Christ meine christliche Freiheit: Die neue Welt Gottes, die Gott verspricht, setzt mich frei von allen einengenden Bindungen dieser Welt. Und die Hoffnung macht mich frei, es einfach schon einmal mit der neuen Welt auszuprobieren: so zu leben, als ob Himmel und Erde sich bereits berührten. Und dann berühren sie sich!

 

„Ich träume davon, dass eines Tages alle Täler erhöht und alle Hügel und Berge erniedrigt werden. Die ungleichen Stätten sollen eben und krumme Wege gerade werden. Und der Ruhm des Herrn wird offenbar werden und alles Lebendige wird ihn gemeinsam erkennen.

Mit diesem Glauben werden wir den Felsen der Verzweifelung in den Stein der Hoffnung verwandeln.“

Das sagte Martin Luther King in seiner berühmten Washingtoner Rede mit den berühmten Sätzen „I have a dream“. Er hat damit dieses Bild vom „Berge versetzen“ aus der Bibel aufgenommen.

Sein Traum hat ihn nicht irre werden lassen an der Realität. Sondern: Er hat ihn ausprobiert, zu leben. Und es haben sich Himmel und Erde berührt, als viele Menschen seinen Traum geteilt haben.

 

[Räume zum Träumen suchen]

Ich wünsche Euch von Herzen, dass Ihr für Eure Träume Räume findet.

Das heißt auch: ganz reale Räume, in denen Ihr Menschen findet, denen Ihr Eure Träume weitersagt.

Wo einer alleine träumt, ist es nur ein Traum.

Wo viele gemeinsam träumen, es ist der Beginn, der Beginn einer neuen Wirklichkeit.

 

Und ich wünsche Euch, dass auch die evangelischen und katholischen Kirchen für Euch Räume bereithalten – und Ihr dort hingehen könnt, um Eure Träume zu träumen.

 

Der evangelische Theologe Fulbert Steffensky hat einmal gesagt:

Wir schulden uns und einer traumlosen Gesellschaft die Bilder vom Leben. (Fulbert Steffensky)

 

Und weiter:

Kirche ist ein Ort der alten Visionen,

der verfemten Worte wie:

Barmherzigkeit.

Gerechtigkeit.

Gnade.

Vergebung.

Trost.

Zorn über Unrecht.

Wahrnehmung der Welt aus der Perspektive des Opfers.

 

Ich wünsche Euch, dass ihr Orte findet für Eure Träume.

Fordert ein, dass man Euch Raum gibt, sie zu sagen – auch bei denen, die Angst haben müssen, in Euren Träumen schlecht weg zu kommen!

Malt Bilder des Lebens für eine traumlose Gesellschaft – so wie diese Taube. Und fordert ein, dass man Euch hilft, Eure Traum zu leben: von den Älteren, von den Mächtigen, von uns als Kirche.

Und lasst Euch als einen echten tröstenden und entlastenden Zuspruch mit auf Euren weiteren Lebensweg geben, dass Gott Euren Weg begleiten wird und Euch es leicht machen möchte:

„Alles, was ihr bittet, …, glaubt nur, dass ihr’s empfangt, so wird’s euch zuteil werden.“