„Wo ist mein Mann?“, fragt eine alte Frau auf die Terrasse eines privaten Altenheims. Ich sitze dort mit einem Bauinvestor und zwei Pfarrkolleginnen. Wir tauschen uns über das Haus aus bei einem gemeinsamen Mittagessen auf dieser Terrasse.
„Wo ist mein Mann?“ – Die Frau steht vor unserem Tisch und schaut sich suchend (und schon ein wenig verzweifelt!) um.
Eine meiner Kolleginnen steht auf, sagt ruhig und zugewandt: „Schauen Sie doch mal drinnen nach! Dort hilft Ihnen sicher jemand, Ihren Mann zu finden!“
Die Frau nickt dankbar und bewegt sich mit einiger Mühe durch die Tür zurück ins Altenheim.
Der Bauinvestor lobt: „Toll, wie sie das gemacht haben. Da sieht man: Sie gehen mit solchen Situationen häufiger um.“
Es entwickelt sich eine angeregte Diskussion über Demenz und wie hilflos oft ältere Menschen sind.
Wenige Minuten kommt die ältere Frau erneut auf die Terrasse. Unsere Blicke begleiten sie. Sie bewegt sich auf uns zu, dreht sich halb um und weist auf die Tür, wo eine weitere Person hinter ihr her kommt: „Da ist mein Mann, ich habe ihn gefunden. Danke nochmals für die Hilfe!“
II.
Liebe Gemeinde,
wie schnell tappen wir in die Beurteilungsfalle!
Dabei „hast du keine Entschuldigung, Mensch – wer auch immer du bist –, wenn du über andere urteilst“, schreibt Paulus im Röm.
Ich habe für mich versucht, den Gedankengang des Predigttextes aufzumalen: Es ist die Warnung des Paulus, nicht übereinander zu urteilen, weil letztlich Gott den Menschen beurteilt.
- Vor Gott sind gleich: Heiden und Juden stehen mit ihrer Schuld gleichermaßen vor Gott, heißt es später im Röm.
- Gott gibt zurück, wie es dem Leben der Menschen entspricht: Denen, die Buße tun, gibt er ewiges Leben aus lauter Gnade. Denen, die bußunfertig sind, „leidenschaftlichen Zorn“. Gott soll der Richter sein, weil der Mensch das nicht beherrscht.
III.
Ob das so einfach ist? – Natürlich urteilen und richten wir über Menschen. Wir schreiben Zeugnisse, bewerten ständig Leistungen. Wir haben vorgefertigte Blicke.
Natürlich gibt es Richter, die über andere Menschen urteilen. Viele haben neulich im ARD-Fernsehspiel „Terror“ von Ferdinand von Schirrach die fiktive Gerichtsverhandlung mitverfolgt, in der es um „schuldig“ oder „nicht schuldig“ in einem ethischen Grenzfall ging: Ist der Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeuges legitim, vielleicht sogar legal, wenn damit ein größeres Verbrechen verhindert wird? Ein Argument dagegen war übrigens, dass kein Soldat sich als Richter über Leben und Tod erheben darf. Ein Argument dafür war, dass ein Mensch in einer solchen Situation nie schuldlos bleiben kann.
Doch um das juristische Richten geht es Paulus nicht, sondern um das Ver-Urteilen und Be-Werten von Menschen.
Ich stelle mir vor, wie Martin Luther auch an diesen Zeilen seine reformatorische Entdeckung gemacht hat – der Röm war für ihn ja entscheidend, in dem Paulus festhält: Jeder Mensch ermangelt des Ruhms vor Gott. Daher ist es pure Gnade, dass es kein Ansehen der Person vor Gott gibt.
Keiner hat das Recht, sich über den anderen zu erheben. Das gilt für jeden Richter, für jede Lehrerin, auch für neu gewählte Staatspräsident. Aber auch für jeden von uns.
Wir regen uns viel zu sehr über Menschen auf als über Zustände. Wir verurteilen Personen statt ihre Positionen zu kritisieren.
Vor Gott gilt die feine, aber so existentiell wichtige Unterscheidung von Person und Werk: der Mensch ist als solcher ist bedingungslos geliebt, selbst wenn Gottes Zorn schwillt über das, was er tut.
IV.
Für mich steckt in dieser reformatorischen Erkenntnis eine einfache Regel für den Alltag: nicht vorschnell urteilen über Menschen! Keine Schubladen aufziehen, so wie es uns mit der augenscheinlich dementen Frau passiert ist! Menschen nicht festlegen!
Und: Für mich steckt in der reformatorischen Erkenntnis die Kraft, dem derzeitigen gesellschaftlichen Klima entgegenzutreten:
Ich merke, wie sich der Ton in sozialen Netzwerken verschärft hat und auch auf den persönlichen Umgang abfärbt. Politische und gesellschaftliche Debatten werden roher; Kommunalpolitiker werden bedroht, wenn sie sich für Flüchtlinge einsetzen. Emotionen werden wichtiger als Fakten. Es fehlt an Respekt.
Gleichzeitig begehren Menschen gegen das Establishment auf – wie jetzt in den USA – , weil ihr Leben von der Gesellschaft abgekoppelt ist. Gegen solche Kritik ist ja nichts einzuwenden (auch wenn Donald Trump selber diesem Establishment entstammt).
Das Problem ist aber die Geisteshaltung, mit der die Establishment-Kritik befeuert wird. Denn hier werden nicht Zustände kritisiert, sondern schlicht Menschen diffamiert. Kern des Populismus Trumps ist das Abwerten und Aburteilen derjenigen, die nicht dazugehören: Schwarze, Muslime, Schwule. Ähnlich denken Rechtspopulisten in Deutschland und Europa.
Die Autorin Carolin Emcke hat in ihrer Dankesrede für den Friedenspreis des Buchhandels davor gewarnt, dass der moderne Populismus von der Vorstellung eines homogenen Volkes ausgeht, in dem alle Menschen (vor-)sortiert werden nach Identität und Differenz.
Be-Wertet, Ver-urteilt.
Damit würde – so Carolin Emcke – alles Dynamische, alles Vielfältige an den eigenen kulturellen Bezügen und Kontexten negiert. Wer sich nicht einordnet, nicht unterordnet, wer anders ist, bekommt es mit dem ausgrenzenden Fanatismus der urteilenden Maße zu tun. Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädige nicht nur die Opfer, sondern die offene Gesellschaft.
Bei Paulus hingegen ist der Mensch, so verschieden er ist, gleich-rangig.
Das Menschenbild Gottes ist ein inklusives.
Es gibt vor Gott keine Leute, die nicht zählen.
Es ist ein Glücksfall und alles andere als profillos: Erstmals feiert die Evangelische Kirche Reformationsjubiläum, das nicht in Abgrenzung zu anderen gefeiert wird, sondern ökumenisch, europäisch und aufgeklärt. In vergangenen Jahrhunderten war es abgrenzend und verurteilend.
Vor Gott gibt es kein Ansehen der Person, sagt Paulus.
Und wer es nicht mit Gott hält: Schon aus römischer Zeit gehört es zu unserer Rechtstradition, dass das Ansehen der Person bei der Rechtsprechung selbstverständlich nicht gilt, unabhängig davon, was jemand ausgefressen hat: Die Justitia, die Gerechtigkeit, wird als Figur immer mit Augenbinde dargestellt.
V.
Apropos: In Hamburg kann man den „Dialog des Dunkel“ besuchen. Sehbehinderte Menschen führen sehende Gäste durch stockdunkle Räume, eine Küche, wo man versuchen muss, den – natürlich ausgeschalteten – Herd zu ertasten, über einen Marktplatz mit Fußgängerampel bis hin zu einem Café, wo man ein Getränk einnimmt.
In diese unbekannte Welt einzutauchen ist für einen Sehenden extrem schwer, weil man sofort auf Hilfe angewiesen ist, während sich der Sehbehinderte routiniert in seinem Alltag bewegt.
Das für mich Entscheidende: Man verabschiedet sich am Ende im Dunkeln, so dass man seinen Guide nie sieht. Es bleibt nur der Eindruck übers Hören und Fühlen zurück: seine Stimme und seine helfende Hand, sein Humor mit uns Sehenden. Dabei würde man sich so gerne ein Bild machen!
Aber ob er dünn oder dick, hübsch oder hässlich ist – all das habe ich nicht gesehen und konnte mir kein „Vor“-Urteil erlauben.
Dieser Mensch hatte so kein „Ansehen“ vor mir. Genauso wie vor Gott. Amen.