Freiheit hinter Gittern – Predigt Buß- und Bettag 2017

Wer bin ich, Gott? – Ein nach außen freier und freundlicher Mensch? Oder bin ich, was ich von mir selber weiß, ein Vogel im Käfig, dürstend und zitternd? Oder bin ich am Ende beides?

Predigt – Christuskirche Recklinghausen Buß- und Bettag 2017

Was der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer im Juli 1944 dichtet, ist ein Hin- und Hergerissensein über sich selbst. Er schreibt diese Zeilen als Gefangener der Nazis aus dem Wehrmachtsgefängnis in Berlin-Tegel.

 

Zum Schluss wird aus dem Gedicht ein Gebet: Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

 

Das Gebet schleudert Gott die ganze Verworrenheit und Widersprüchlichkeit der Situation entgegen: die innere Haltung eines Christenmenschen auf Hoffnung und Zuversicht – und die Fassade eines Menschen, der seine äußere Haltung vor lauter Verzweiflung und Angst nicht verlieren will.

 

Bonhoeffer wirft sich Gott an den Hals: „Wer ich auch bin …“ – Und endet dann in einer Mischung aus Bittruf und Bekenntnis: Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

 

Das Gebet ist wie ein Spiegel. Aber in diesem Spiegel muss ich nicht zuerst mich betrachten. Sondern das Gebet ist wie ein Spiegel, in dem ich mich als Gottes Ebenbild erkenne. Er kennt mich!

 

War dieses Gebet für Bonhoeffer ein Moment der Freiheit?

 

II.

Szenenwechsel. Reformationssommer. In der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ trifft die Reformation auf Kunst – an einem absolut ungewöhnlichen Ort: Ich laufe in einem alten Gefängnis Wittenbergs kahle lange Gänge entlang. In den Zellen haben 65 Künstler die Botschaft Martin Luthers in moderne Kunst umgesetzt.

 

„Freiheit hinter Gittern“ – könnte man sagen. Es geht um Meinungsfreiheit in China. Der Menschenrechtler und Bildhauer Ai Wei Wei hat einen Mamorblock entworfen, aus dessen Silhouette ein in sich verkrümmter Mensch entwichen ist.

 

Eine andere Zelle wirkt durch die Lichtverhältnisse zunächst leer, bis man auf grüne Schattierungen an den Wänden merkt: Dort sind 99 Namen Gottes an die Wände geritzt.

 

Lange bleibe ich vor der Zelle stehen, die der russische Künstler Andrey Kuzkin gestaltet hat. Der Künstler hat in seiner Zelle eine Stellage mit zahlreichen Figuren zusammengestellt, Sie alle knien und- beten. Manche in sich gebeugt, manche mit Blick zur Zellendecke. [Titelbild]

 

Die Figuren sind aus Brot, Salz und Spucke gemacht. So ähnlich haben es Menschen in den Konzentrationslagern getan und tun es heute noch in den Gefängnissen totalitärer Staaten.

 

Jede Figur, so scheint es mir, vereinigt die widersprüchlichen Gedanken der Unfreien: Verzweiflung, Haltung, Hoffnung und Humanität.

 

III.

Erneuter Szenenwechsel: Sie singen – wie wir heute morgen – „Bleibet hier und wachet mit mir“: Gemeindeglieder der Berliner Gethsemanekirche, dort wo einst der Protest gegen das DDR-Regime begann und wo immer noch montagabends für den Frieden gebetet wird. Zwischenzeitlich kamen nur noch vier oder fünf zum Montagsgebet.

 

Seit dem Sommer sind es plötzlich wieder viel mehr. Sogar Berlins Regierender Bürgermeister ist ein Mal dabei, Bürgerrechtler und Menschen vom Prenzlauer Berg, die man sonst nicht in der Kirche sieht.

 

Kerzen werden entzündet, Lieder gesungen und Gebete formuliert. Für Peter Steudtner.

 

Peter Steudtner gehört zur Gemeinde. Er zum Politikstudium nach Berlin, engagierte sich bei Amnesty International. Er setzte sich gegen die Todesstrafe in den USA und gegen die Unterdrückung der Kurden in der Türkei ein.

 

Im Sommer wurde Peter Steudtner in der Türkei verhaftet Sein Schicksal war zwischenzeitlich genauso ungewiss wie das von Deniz Yücel und all den anderen in der Türkei Inhaftierten.

 

Noch am Abend der Verhaftung findet das erste Fürbittengebet für den gefangenen Steudtner statt. Steudtner erfährt davon, dass seine Gemeinde für ihn betet. Es heißt: „Wenn sie für ihn beten, steht er auf dem Gefängnishof und singt lauthals mit.“

 

Er bedankt sich in offenen Briefen. Als 100 Tage rum sind, formuliert er, als ob er über die Wirkung der Gebete schriebe: „100 Tage eure Solidarität und Kraft spüren, …100 Tage Unsicherheit wie lange noch, 100 Tage wissen, dass unsere Solidarität Grenzen und Gefängnismauern überwindet.“

 

Am 25. Oktober -endlich – wird er entlassen und kann zunächst einmal nach Deutschland zurückkehren. Wie nur hat er das ausgehalten? Welche Gedanken mag er – auch Gott gegenüber – gehabt haben? Hat er auch deshalb durchgehalten, weil Menschen für ihn gebetet haben?

 

IV.

Noch so eine Gefangenengeschichte: „Ich lasse euch aber wissen, liebe Brüder“, schreibt der Apostel Paulus: „Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten. Denn dass ich meine Fesseln für Christus trage, das ist den Machthabern und allen anderen offenbar geworden. “ (Phil 1,12ff.)

 

Paulus schreibt den Brief an die Philipper aus dem Gefängnis. Es ist eigentümlicher Weise der hellsten und hoffnungsvollsten überhaupt. Am Ende ruft Paulus zur Güte und zum dankenden und fürbittenden Gebet auf:

 

„Freuet euch im Herrn alle Wege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen. Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden.“ (Phil 4,4-5)

 

Paulus fühlt sich innerlich frei, weil er sich an Christus gebunden fühlt. Daran scheint auch äußere Unfreiheit nichts zu ändern. Er kann – im Gefängnis sitzend – dankbar an seine Gemeinde denken und sie zur Fröhlichkeit animieren.

 

Tatsächlich liegt darin die Kraft des Gebetes:

 

Gebete sind so frei, wie die Gedanken frei sind. In unseren Gebeten können wir uns allein an Gott binden. Wir können Zweifel, Wut und Unrecht ihm entgegenschleudern. Unsere Fragen, wer wir sind, wie Dietrich Bonhoeffer es tut.

 

Gebete, in denen andere für mich vorsprechen, stärken mich und machen mich frei, dass meine Gedanken nur um michkreisen. Gute Wünsche gehen selbst über Mauern hinweg, wie es womöglich Peter Steudtner erlebt hat.

 

Die Ausstellung in Wittenberg hat mir umgekehrt aber auch gezeigt: Innere Freiheit ist ohne die äußere nicht viel wert. Gebete sollten doch so konkret sein, dass sie Menschen in Notlagen und im Unrecht erreichen. Dass sich etwas ändert. Dass die betenden Figuren im Kunstwerk von Andrey Kuzkin nicht so verharren müssen, sondern aufgerichtet in die Freiheit gehen!

 

Fragen Sie mich nach meiner Entdeckung im Reformationssommer, dann ist es die Erfahrung im Wittenberger Gefängnis und die Erkenntnis: Luther trennt eben nicht zwischen innerer und äußerer Freiheit. wie er hinsichtlich des Gebets auch nicht zwischen geistlichen und leiblichen Gaben unterscheidet.

 

Abschließend aus der der Erklärung zum Vaterunser im Kleinen Katechismus: „Was heißt Beten? – Ein herzliches Gespräch mit Gott dem Herrn haben, in dem wir alle unsere Not und mannigfaltigen Anliegen dem allmächtigen Gott […] vortragen und […] allerlei geistliche und leibliche Gaben von ihm erbitten […].“